»Er oder sie!« war der Schlachtruf wahlkämpfender Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen, der »falsche« Jürgen Rüttgers oder die »authentische« Hannelore Kraft, eine »schicksalhafte Entscheidung« zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Rüttgers hatte, angeknackst durch Affären in seiner Partei, wohl schon einige Wochen vor dem 9. Mai die Lust am Wahlkampf verloren, und so konnte seine Gegenspielerin, ursprünglich eine sozialdemokratische Notbesetzung, ihre Rolle als Fighterin erfolgreich ausspielen. »Die SPD ist wieder da«, triumphierte sie am Abend nach der Wahl, und die Begeisterung über die herben Verluste der CDU lenkte ihre Gefolgschaft von der Realität ab: Die SPD hat, verglichen mit der Landtagswahl 2005, weiter an Zustimmung verloren. Zudem blieb sie um einige tausend Stimmen hinter der CDU zurück, die damit gewohnheitsrechtlich bei der Besetzung des Chefpostens in der Regierung den Vortritt hat.
Das öffentlich vermittelte Bild von zwei gegeneinander stehenden politischen Heerlagern entsprach nicht der Wirklichkeit. Die Grünen, zu Recht einen Mißerfolg der FDP erwartend, hatten stets die Karte eines Regierungsbündnisses mit der CDU in ihrer Hinterhand; der unerwartet hohe Stimmenverlust der CDU läßt sie jetzt düpiert dastehen. In der SPD wiederum hatte schon vor dem 9. Mai die Option einer Großen Koalition einflußreiche Befürworter, wenngleich darüber öffentlich wenig geredet wurde. Auch ein versierter Machttechniker wie Peer Steinbrück könnte Hoffnungen in dieses Modell setzen, nicht zuletzt persönliche. Eine Große Koalition in Düsseldorf wäre ein Signal in Richtung Berlin, und warum sollte sich Angela Merkel demnächst, wenn vielen Millionen Menschen weitere Opfer zur Finanzierung von Rettungspaketen für Banken und Milliardäre abverlangt werden sollen, der »staatspolitischen Notwendigkeit« des Zusammengehens mit der SPD verweigern? Frank-Walter Steinmeier würde eine neue Partnerschaft mit der Merkel-Union gewiß nicht scheuen.
Daß die nordrhein-westfälische SPD, um mit den Grünen eine Regierung bilden zu können, die Hilfe der Linkspartei in Anspruch nehmen würde, ist äußerst unwahrscheinlich. »Selbst die vernünftigen Köpfe der Linken aus dem Osten raten uns von einer Zusammenarbeit in NRW ab«, verkündete Sigmar Gabriel kurz vor der Landtagswahl. Die Linkspartei in Nordrhein-Westfalen hat Glück, wenn sie als Koalitionspartner nicht gewünscht wird; ihr mühseliger Weg zu einer handlungsfähigen politischen Kraft wäre vorzeitig beendet, wenn sie zum Hilfstrüppchen einer von SPD und Grünen geführten Landesregierung würde.
Die Grünen sind, wie ihre Führung am Abend des 9. Mai hocherfreut konstatierte, »in der Mitte angekommen«; das heißt: Sie haben kapitalismuskritische Anwandlungen hinter sich. Und die SPD, die sich darüber freut, »wieder da« zu sein, wenn auch ziemlich beschädigt, bleibt nach dem Willen ihres Managements im politischen Kern die Partei, die sie zu Zeiten Gerhard Schröders war: Sie macht keine »Politik gegen die Wirtschaft«. Wolfgang Clement ist irrtümlich aus dieser Partei ausgetreten; er würde mit Hannelore Kraft, seiner ehemaligen Ministerin, gut auskommen.
Die Stellung der SPD im Politmarkt würde sich zweifellos verbessern, wenn die als Siegerin gefeierte Hannelore Kraft nun auch Ministerpräsidentin würde. Da ihr die CDU dieses Amt schwerlich überlassen kann, müßte sie neben den Grünen ein paar Überläufer auftreiben, um eine Mehrheit zu erlangen. Oder der im Wahlkampf als »marktradikal« bekämpften FDP ein verlockendes Angebot machen; an den Grünen würde das nicht scheitern. Üblicherweise – der Fall Ypsilanti war die Ausnahme – halten die Medien den Parteien nicht vor, welche Koalitionen sie vor der Wahl ausgeschlossen haben.
Übrigens ist die Wahlbeteiligung in Nordrhein-Westfalen deutlich zurückgegangen. Am Wetter hat es nicht gelegen. Mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten hatten offenbar das Gefühl, daß da nicht über ihr Schicksal entschieden werde – jedenfalls nicht durch parteipolische Partnerspiele.