Alle Tage werden wir mit Nachrichten konfrontiert, daß Politiker und Politikerinnen, deren Partei sich als »christlich« bezeichnet, Meinungen äußern und Entscheidungen treffen, die in eklatantem Widerspruch zu Grundsätzen christlicher Ethik, wie Gewaltlosigkeit, Tötungsverbot und Nächstenliebe, stehen. Ob es um Kriege und mörderische Waffen oder die Produktion von noch in Jahrtausenden strahlendem lebengefährdendem Atommüll geht, die von den Lobbyisten der Profitinteressenten eingeforderte Zustimmung der Parteichristen ist mit Sicherheit zu erwarten. Ein Widerspruch zwischen christlichem Anspruch und christlicher Praxis, den schon George Grosz in seiner berühmten Karikatur Christus mit Gasmaske und Soldatenstiefeln unübertrefflich charakterisiert hat. Wie erklärt sich die Attraktivität der christlichen Lackierung?
Wenn ich Forschungsaufträge an Doktoranden zu vergeben hätte, würde ich sie bitten, aus dem unübersehbaren historischen Material Stimmen zu sammeln und zu analysieren, die sich zu der Frage äußern, wie sich eigentlich die in der Shoah und in den Kriegen des 20. Jahrhunderts kulminierenden Massenverbrechen zu dem religiösen Dogma von der Allmacht eines gütigen Gottes verhalten. Die Photographin Herlinde Koelbl hat 1989 in ihrem sehr lesenswerten Buch »Jüdische Portraits« etwa 80 prominente jüdische Persönlichkeiten interviewt und dabei immer wieder die Frage gestellt, wie Gott Auschwitz zulassen konnte. Mit wenigen Ausnahmen bekannten sich ihre Gesprächspartner als Atheisten, die keinen Anlaß hatten, sich über den Charakter eines allmächtigen überirdischen Wesens Gedanken zu machen, aber über die Unvereinbarkeit von Auschwitz und Gottglauben einig waren. Uri Avnery hat es auf die knappe Formel gebracht: »Der Gott, der Auschwitz zugelassen hat, kann nur unmoralisch sein oder gar nicht existieren.«
Doch es gab gläubige Christen, die all diese mit Staatsgewalt durchgeführten Verbrechen durchaus mit der Vorstellung vereinbaren konnten, daß ein allmächtiger Gott seine Hand über den Verbrechern und nicht über deren Opfern gehalten hat. Der Kinderbuchautor Janosch berichtet von einer Kindheitserinnerung, die ihn verstört hat (Süddeutsche Zeitung, 24./25. April 2010). Angesichts von durch die Stadt getriebenen Juden hörte er die Äußerung eines Jesuiten: »Gott weiß, was er tut.« Aus der Sicht dieses frommen Mannes trugen nicht die faschistischen Massenmörder, sondern Gott die Verantwortung für die Verbrechen der Gefolgsleute des »Führers«. Gott wußte, was er tat, als er zuließ, daß Millionen Menschen jüdischer Abstammung ermordet wurden – eine zynische Rechtfertigung des Judenmords unter Berufung auf einen Gott, dem die Gesinnung eines Massenmörders zugewiesen wird.
Der von Janosch zitierte Jesuit stand mit seiner Ansicht, daß Gott die Verantwortung für alle Verbrechen trage, nicht allein. Die Mitschuld eines allmächtigen Gottes war der Glaubenssatz, mit dem sich deutsche Kollektivschuld relativieren ließ. Damit übertrifft die theologische Rechtfertigung des Judenmords die juristische Konstruktion der bundesdeutschen Rechtsprechung, wonach die Täterschaft allein bei Hitler und seinem Stab gelegen habe, noch bei weitem, indem selbst Hitler zum Werkzeug eines göttlichen Verbrechensplans wird. Dazu fällt einem so manche Äußerung führender Naziverbrecher ein, die sich oft und gern auf Gott und die »Vorsehung« beriefen. Im Dokumentationszentrum Obersalzberg zum Beispiel kann man Ausschnitte aus einer Goebbels-Rede hören, wo dieser faschistische Maulheld die Soldaten noch in den letzten Kriegstagen anfeuerte, »wie in einen Gottesdienst« in die Schlacht zu ziehen.
Eigentlich hätte doch die verlogene Bemühung Gottes für die Rechtfertigung staatlicher Gewalt mit dem desaströsen Ende der Naziherrschaft ein für allemal erledigt sein müssen. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich erlebte schon als Göttinger Student in den Jahren 1946/47 in einer Veranstaltungsreihe, die Professoren verschiedener Fakultäten im Hause des einst als Kriegstagebuchführer des Oberkommandos der Wehrmacht tätig gewesenen Percy Ernst Schramm zusammenführte (»Gesprächskreis Herzberger Landstraße 66«), die Propagierung des Gottesglaubens als Rezept zur Bewältigung der Vergangenheit. Bei den Diskussionen herrschte eine Grundstimmung, die sich in dem Satz zusammenfassen läßt: Wir haben den falschen Messias angebetet, nun gilt es, wieder den richtigen anzubeten.
Besonders anschaulich wurde diese Rückbesinnung auf den richtigen Messias für mich in der Person eines Professors der Theologie, den ich in anderem Zusammenhang kennenlernte. Er gehörte zu den vielen, die Hitler mit religiöser Inbrunst empfangen und verehrt hatten. Sein Glaube an den »Führer« war so weit gegangen, daß er aus der Kirche ausgetreten war. Nun übte er sich in Zerknirschung und Buße und hoffte auf Vergebung seiner Sünden und Rückkehr in sein Amt.
In diesen Begegnungen kündigte sich ein Zeitgeist an, von dem Adenauers CDU profitierte. Wenn Gott mitgetötet hatte, bot sich eine christlich garnierte Entschuldigung der schuldig gewordenen Generation an. Kollektive Schuldgefühle brauchten sich nicht mehr auf die Verantwortung für die ungeheuren Verbrechen der NS-Zeit, sondern nur noch darauf beziehen, daß man dem Vater im Himmel vorübergehend einen Ersatzgott vorgezogen hatte. Und so konnte die mit einem christlichen Namen geschmückte Partei nach Gründung der Bundesrepublik aus dem Stand die Mehrheit der Wähler, die bisher den Herren Hitler und Goebbels zugejubelt hatten, hinter sich bringen und die Richtlinien der Politik einem Bundeskanzler anvertrauen, der die antikommunistische Feinderklärung fortsetzte, etwas gegen »Naziriecherei« hatte, den Rassenschandekommentator Globke zu seinem Staatssekretär ernannte und an Gott glaubte.
Wann arbeitet eigentlich diese Partei endlich ihre braune Vergangenheit auf? Und was muß man für die Zukunft von einer Partei fürchten, die regelmäßig die reaktionärsten politischen Positionen vertritt und dafür den Anspruch mißbraucht, eine »christliche« Partei zu sein? Wenn Gott die letztinstanzliche Verantwortung für alle Weltprobleme trägt, ist das ein Blankoscheck für unverantwortliches politisches Handeln.