Adler und Taube
Bei der Eröffnung der Ausstellung »Deutscher Geist. Ein amerikanischer Traum« im Literaturarchiv in Marbach las Henry Kissinger Goethes Gedicht »Adler und Taube« vor. Wie passend. Gerade zeigen der deutsche und der US-amerikanische Adler, Seite an Seite, ihre Krallen in Afghanistan, und die Taube scheint wieder einmal wenig Chancen zu haben.
Zu Kissingers Zeiten in der US-Regierung war das kaum anders. Er galt lange außenpolitisch als »Falke« – ein zwar kleinerer, aber um so beweglicherer Greifvogel. Außerdem wirkt die Bezeichnung »Falke« für höhere Angestellte des Imperiums passender als der Name des »Königs der Lüfte«.
Als Sicherheitsberater des Präsidenten Nixon soll Kissinger die »Operation Condor« unterstützt haben, die vom chilenischen Geheimdienst ausging. Ihr fielen hunderte, wenn nicht tausende Linke zum Opfer. Condor – wieder so ein Greifvogel, diesmal aus der Familie der Geier.
Andererseits erhielt Kissinger 1973 den Friedensnobelpreis für seine Bemühungen, den Vietnamkrieg zu beenden, der für die USA – selbst durch Terrorbombardements, zu denen auch Kissinger geraten haben soll – längst nicht mehr zu gewinnen war. Nixon wiederum bemühte sich im Kalten Krieg um eine Entspannungspolitik, weil sie realistischer erschien und den Interessen des Imperiums besser diente. »Tauben« waren sie beide deshalb nicht.
Dazu noch eine kleine Geschichte: Als Richard Nixon der Bundesrepublik einen Staatsbesuch abstattete und, wie damals üblich, durchs Jubelspalier fuhr, ließ eine Frau ihre Tauben aus dem Verschlag steigen. Sie wollte Nixon als Friedensfürsten ehren. Eine der Tauben flog nahe heran, sie hätte sich Nixon gern auf die Schulter gesetzt. Der wehrte erschrocken ab, dachte wohl, die Taube könnte eine Bombe transportieren. Ob sie ihn wenigstens bekleckert hat, ist nicht überliefert.
Reiner Diederich
Probleme mit Griechenland
Schon die Nazis in ihrem Streben, durch Krieg und Gewalt einen europäischen Großwirtschaftsraum mit der »Reichsmark« als Leitwährung zu schaffen, hatte mit Griechenland spezielle Schwierigkeiten. In dem ökonomisch wenig entwickelten Land führten Okkupation und Ausplünderung durch Deutschland und Italien zu einer nicht mehr beherrschbaren Inflation.
Die Währungsentwicklung glitt den Besatzern 1941 völlig aus der Hand. Immer mehr Waren verschwanden vom Markt. Die Preise auf dem Schwarzmarkt stiegen von Tag zu Tag. Als die Wehrmachtsvorräte zur Neige gingen, waren Besatzungsbedarf und Truppenversorgung nicht mehr gesichert. Griechenland konnte die Geldforderungen der Wehrmacht in Drachmen-Währung nicht mehr befriedigen; sie stiegen vom Sommer 1941 bis Mitte 1942 auf mehr als das Zehnfache.
Weil die auf Hochtouren laufende Notenpresse nicht nachkam, sah sich die Bank von Griechenland Ende 1941 gezwungen, durch Lochung eigentlich bereits ungültig gemachte Drachmen-Scheine wieder in Verkehr zu bringen.
Zunächst sollten Warenlieferungen nach Griechenland abhelfen, verrechnet zur amtlichen Kursrelation. Auf dem Schwarzmarkt sollten sie zum hundertfach und mehr überhöhten Preis verkauft werden. Erklärte Absicht der Reichsbank: »Die Preisüberschüsse in Drachmen sollen der deutschen Truppe zur Finanzierung ihres eigenen Drachmenbedarfs dienen.« Vergeblich.
Den Soldaten konnte Wehrsold ab 1943 nur noch in Wehrmachtsbehelfsgeld (sogenanntem Kantinengeld) gezahlt werden.
Schließlich sollte »Reichsgold« die Situation retten. Den Angaben des damaligen Bankenkommissars zufolge wurden 1944 insgesamt mehr als elf Millionen Goldfrancs und reichlich 760.000 Goldpfund zu Interventionsverkäufen der Deutschen Reichsbank an der Börse nach Athen verbracht. Die dazu angezapften Goldbestände in Berlin und Wien waren zum Teil schon vor dem Krieg bei antijüdischen Aktionen konfisziert oder im Krieg als »Beute« geraubt, vom besetzten Ausland erpreßt oder den Häftlingen in den Konzentrationslagern abgenommen. Die Umstände waren ganz anders als heute, aber eins hat sich nicht geändert: Immer ging und geht es um die Wahrung der Interessen des Kapitals in einem europäischen Großwirtschaftsraum.
Manfred Oertel
Einsatznah
Paul Karl Schmidt, der im Zweiten Weltkrieg als Pressechef im Auswärtigen Amt Public Relations für den Holocaust und Propaganda für den Krieg betrieb und nach dem Krieg unter dem Pseudonym Paul Carell als Bestsellerautor bis in die neunziger Jahre die Wehrmacht von ihren Verbrechen entschuldete, hilft posthum der Bundeswehr bei der Ausbildung ihrer Soldaten. Der Militärhistoriker Detlef Bald fand heraus, daß Auszüge aus Paul Carells Bestseller »Unternehmen Barbarossa« aus dem Jahre 1963 in den aktuellen »Hilfen für den Gefechtsdienst« für die Ausbildung genutzt werden. Drei Operationen der Wehrmacht, wie sie Carell in »Unternehmen Barbarossa« geschildert hat, dienen jetzt als Beispiele, an denen Soldaten »einsatznah« ausgebildet werden sollen.
Die Redaktion der
ARD-Sendung
Kontraste wollte kürzlich diesen Sachverhalt zum Thema machen, doch wie die zuständige Redakteurin mitteilte, »mußten wir kürzen, weil der Beitrag schon Überlänge hatte«. So wurde der Name Schmidt-Carell nicht genannt. Doch: »Aufgrund unserer Berichterstattung wurden diese Ausbildungsbücher von der Bundeswehr im letzten Jahr aus dem Verkehr gezogen und werden nicht mehr benutzt.«
Wirklich? Militärhistoriker Bald widerspricht. Er erfuhr vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, daß die Ausbildungsrichtlinien von 2006, welche die »Hilfen für den Gefechtsdienst« mit Paul Carell als Quellengeber empfehlen, bis dato gelten.
Wigbert Benz
Tag der Randale
Der »Tag der Arbeit« hatte in diesem Jahr in den deutschen Medien einen ungewohnten Aufmerksamkeitserfolg. Seit langem war es nicht mehr vorgekommen, daß zum 1. Mai schon Tage vorher derart intensiv berichtet und kommentiert wurde – nicht wegen der gewerkschaftlichen Veranstaltungen, sondern wegen erwarteter Randale, denn diese Erwartung bot Gelegenheit, vor dem »Linksextremismus« zu warnen, dem bekanntlich auch die Regierung stärker entgegenwirken will.
Zwar stellte sich dann heraus, daß die Randalierer in diesem Jahr nicht so eifrig waren wie erwartet, aber sie hatten schon vor dem 1. Mai den ihnen zugedachten Dienst getan: »Die verstärkten Warnungen vor Ausschreitungen am 1. Mai werden ihren Zweck erfüllen, wenn sie mehr friedliebende Bürger von Menschenansammlungen fernhalten«, hieß es im Leitartikel der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. April.
Der 1. Mai, vom Tag der Demonstration von Arbeiterinteressen zum Tag der Randale umgeschrieben – wen sollte es wundern, wenn er demnächst zum Tag der Bekämpfung des Linksextremismus erklärt würde?
Marja Winken
Exclusiv
Das Göttinger Café Cron & Lanz ist stolz auf seine Tradition. In seiner über einhundertjährigen Geschichte, so rühmen sich die heutigen Betreiber auf ihrer Internet-Seite, wurde der Name zu »einem im In- und Ausland renommierten Begriff für exclusive Konditorenkunst«. Dazu lädt das Café mit einem »Herzlichen Willkommen« ein: »Treten Sie ein in die Welt verschiedener Köstlichkeiten.« Und so kommt hier viel Edelpublikum von der Göttinger Flaniermeile zusammen. Doch gelegentlich kommen auch andere. Über die äußerte sich dieser Tage die gegenwärtige »Leiterin des Hauses in der vierten Genera-tion« in der örtlichen Presse: »Diese Menschen können sich einfach nicht benehmen ... Es läuft viel Dreck rum in der Göttinger Innenstadt.« Vor allem »die vielen Bettler« bereiteten Probleme. Einige seien friedlich, andere »sehr dreist« und »wie Ungeziefer«.
Eine Tradition lebt wieder auf, die in Deutschland nie ganz vergessen wurde: »Es muß auch der letzten Küchenmagd in Deutschland klargemacht werden, ... bis jeder in Deutschland jeden Polen, gleichgültig ob Landarbeiter oder Intellektuellen, im Unterbewußtsein schon als Ungeziefer ansieht« – so hieß es am 14. Oktober 1939 in einer »Ausdrücklichen Weisung des Propaganda-Ministeriums an alle Zeitungen«.
In Göttingen regte sich diesmal gegen den »Ungeziefer-Vergleich« ein Protest, der sich in mehr als 60 Kommentaren niederschlug und dann auch die inzwischen »um den guten Ruf ihres Hauses« besorgte Chefin bewog, sich von ihren Aussagen zu distanzieren und sich bei allen Bürgern Göttingens »außerordentlich zu entschuldigen«. Zugleich kündigte die Göttinger Staatsanwaltschaft an, sie prüfe, ob sie ein Verfahren wegen Volksverhetzung einleiten müsse.
Schon drei Tage später aber ließ sie die Öffentlichkeit wissen: »Es gibt kein Verfahren, weil die Voraussetzung dafür fehlt.« Zwar könne, so erklärte der Oberstaatsanwalt, »der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt sein, wenn Teile der Bevölkerung beschimpft werden, und als Teile der Bevölkerung dürften in diesem Fall auch die Bettler der Stadt betrachtet« werden. Allerdings »wäre eine weitere Voraussetzung gewesen, daß diese Teile in ihrer Gesamtheit, also pauschal, beschimpft oder verächtlich gemacht werden. Das war hier nicht der Fall«. Die Geschäftsfrau habe doch »differenziert«, denn einige Bettler seien ihrer Ansicht nach »friedlich, andere nicht« – eben nur »Ungeziefer«.
Jetzt wissen wir, und viele, die die Traditionen stolz hochhalten, werden es sich merken: Sie können in Zukunft aus dem »Wörterbuch des Unmenschen« (Dolf Sternberger) unbeanstandet zitieren, sie können, wie weiland Goebbels, Menschen als »Ungeziefer« bezeichnen, wenn sie dabei nur eine kleine Differenzierung einbauen, irgendeine wird ihnen schon einfallen, und die Staatsanwaltschaft wird es ihnen danken.
Hartwig Hohnsbein
Familienfoto ohne Retusche
Meerane ist eine glückliche Stadt. Eine glückliche sächsische Kleinstadt. Denn in ihren Mauern wohnt ein Schriftsteller, der immer wieder diesen Ort und seine Bewohner zum Gegenstand humoristischer Erzählungen, historischer Reminiszenzen und geistreicher Glossen gemacht hat. Seine Helden sind die kleinen Leute, die Weber und Metaller, die Bäcker und Kleingärtner in Häusern, die schnell mal hochgezogen wurden, als der Kapitalismus in Sachsen boomte.
Wolfgang Eckert, so heißt der Mann, in diesem Blatt nicht unbekannt, schrieb in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sein eigenes Credo: »Familienfoto«, den Roman eines Arbeiters aus Leidenschaft, eines Familienmenschen, wie er eben nur in diesem Buch steht.
Wie ein liebevoller Nachgang, eine Erklärung des Romans, wirken jetzt die Kindheitserinnerungen, die sich Eckert zu seinem 75. Geburtstag schenkte: »Das ferne Leuchten der Kindheit«, in einem kleinen Chemnitzer Verlag erschienen, etwas irreführend als »Roman« untertitelt. In kurzen Kapiteln werden die Straßen und Plätze, die Freunde und Verwandten beschrieben, die großen (Kriege) und kleinen (Fußballniederlagen) Katastrophen.
Gewiß, manche Sehnsucht nach guter alter Zeit klingt da durch; er beklagt in gelegentlichen Volten zur Gegenwart die heutige Heuchelei und Vergewaltigung der Wahrheit. Das war nach meiner, fünfzehn Jahre kürzeren Erinnerung früher auch nicht anders. Doch die Detailgenauigkeit, die akribische Beschreibung jenes »fernen Leuchtens« macht dieses Buch zu einem weiteren glücklichen Dokument für die Stadt Meerane und die Kleinstädte rundherum von Anklam bis Zella-Mehlis.
Matthias Biskupek
Wolfgang Eckert: »Das ferne Leuchten der Kindheit«, Mironde Verlag, 164 Seiten, 9.95 €
Carlo Schellemann
Als wir einmal mit Freunden in seinem Atelierhaus in Eggenfelden beisammensaßen und uns über die Berufsperspektiven von Bildenden Künstlern im Alter unterhielten, meinte Carlo Schellemann: »Ich werd halt so lang malen, bis mir der Pinsel aus der Hand fällt.« So ist es gekommen. Fast bis zu seinem Tod hat er gemalt und gezeichnet. Voriges Jahr im November, 85-jährig, zeigte er neue Bilder neben Arbeiten, die er vor vielen Jahren geschaffen hatte. So war in dieser Ausstellung der Bogen weit gespannt von seinen engagierten Grafiken – voller Empörung gegen die Atomrüstung, gegen den Vietnamkrieg – und eher surrealistischen Stilleben bis zu seinen letzten Werken. Das sind große Gemälde mit Motiven früherer Reisen, in denen er noch einmal seine ganze künstlerische Erfahrung verdichtete.
Reisen, dabei zeichnen, malen und fotografieren, das war seine Leidenschaft und gehörte jahrzehntelang zu seinem Beruf. Bei einigen dieser Reisen ins Gebirge und in die Wüste durfte ich ihn begleiten, was immer ein besonderes Erlebnis war. Gern teilte er sein umfangreiches Wissen über Land und Leute mit seinen Begleitern. Teilzuhaben an seinem künstlerisch geschulten Blick, trug zu meiner eigenen künstlerischen Weiterentwicklung bei. Ja, Carlo war mein Lehrer und mein Freund. Ein Vorbild war er mir und anderen durch sein Engagement und seine Fähigkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, weder gesellschaftlich noch gesundheitlich. Als Vorbild wird er weiterwirken.
Hans Wallner
Heine und Tucholsky
»Der ist ein großer Schweinehund, dem jeder Sinn für Heine schwund ...« Dieser Vorwurf, den ich leider keinem Autor zuordnen kann (wer hilft mir?), prallt von Jochanan Trilse-Finkelstein ab. Er steht auf der Gegenseite jener, die Heines »Loreley« wider besseres Wissen einem »Verfasser unbekannt« zuordneten, woran just in diesen Tagen gedacht sei, in denen sich die faschistische Verbrennung der Schriften Heines und Tucholskys wieder einmal jährt.
Es ist ein Gewinn, daß Trilse-Finkelstein seine Untersuchungen zu »Heine und Tucholsky in Paris« zusammengefaßt und seine Erkenntnisse über die Pariser Befindlichkeiten »des Einen« und »des Anderen« und über ihre französischen Sichten auf die deutschen Verhältnisse um eine Auswahl der beiden Jahrhundertsatiriker ergänzt hat.
Das Erscheinen des Bandes ist auch deshalb zu begrüßen, weil es sich die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft bedauerlicherweise nicht leisten konnte, einen Tagungsband zu ihrem 20jährigen Bestehen herauszugeben, in dem Trilse-Finkelsteins Vortrag ein besonderes Glanzlicht gewesen wäre. Man kann auch am falschen Ende sparen.
Ich erinnere mich lebhaft an das gleich betitelte, engagierte Referat des Autors zur Pariser Tagung der Tucholsky-Gesellschaft Pfingsten 2008 – rund 160 Jahre nach Heines und rund 80 Jahre nach Tucholskys Pariser Jahren sowie exakt 75 Jahre nach der faschistischen Brandschatzung ihrer und weiterer humanistischer und kritischer Schriften. Die Gesellschaft hatte zu ihrem Jubiläum in die Maison »Heinrich Heine« auf dem Pariser Campus »Cité Universitaire« eingeladen, und ein besserer Konferenzort war kaum vorstellbar. Am Abend vorher – bei Rotwein im Hotel – hatte mich JTF noch um Vorschläge zur Kürzung seines Beitrages gebeten. Da war ich überfordert, denn Ergänzungen fallen mir schon immer leichter als Einstriche, und das umso mehr, als auch noch derjenige darum bat, der sich gründlich überlegt hatte, was da zu sagen war. So kam, was kommen mußte: Die Redezeit wurde überzogen, und der nachfolgende Referent befindet sich auf Lebenszeit mit seinem Vorredner und mir, dem Pariser Versammlungsleiter, im Clinch.
Gut, daß dem Verfasser bei der Aufbereitung des Vortrages nicht der Pariser Zeitdruck im Nacken saß. So eröffnete sich die Möglichkeit der Erweiterung und Akzentuierung, und Trilse-Finkelstein machte davon weidlich Gebrauch.
Auf welchen sieben Ebenen sich der Literaturwissenschaftler und Heine-Biograph dem Thema nähert, soll hier nicht vorweggenommen werden. Der Rezensent sieht seine Aufgabe auch nicht darin, dem Leser durch eine knappe Inhaltsangabe die Mühe und den Genuß der Lektüre zu ersparen.
Beide, »der Eine« und »der Andere«, bleiben aktuell, und das Buch ist es folgerichtig auch.
Wolfgang Helfritsch
Jochanan Trilse-Finkelstein: »Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris.«, Edition bodoni, 293 Seiten, 24.80 €
Rezension der Rezensionen
Volker Lösch hat in Stuttgart Shakespeares »Titus Andronicus« inszeniert. Bei der Premiere verließen Zuschauer scharenweise das Theater. Die Gewalt, die Shakespeare nicht erfunden, sondern dokumentiert hat und die Lösch seinem Publikum nicht erspart, wollten sie offenbar nicht sehen.
Kritiker knallen keine Türen. Ihr professionelles Ethos zwingt sie, bis zum Ende zu bleiben. Sie distanzieren sich auf andere Weise vom Bühnengeschehen: Sie flüchten sich in Ironie.
Fast sämtliche Rezensionen der Inszenierung stimmen sich auf den ironischen Ton ein. Das ist deshalb berichtenswert, weil es symptomatisch ist. Die Ironie ist zu einem wohlfeilen Überlegenheitssignal verkommen, mit dem man sich vor der Auseinandersetzung drückt. Sie ist die großbürgerlich-vornehme Spielart der Verweigerung. Man tut, als stünde man darüber, um sich nicht hineinbegeben zu müssen.
Gegen Löschs »Titus Andronicus«, der sich auf Heiner Müller beruft, was freilich auch einer Immunisierungsstrategie nahe kommt, läßt sich einiges einwenden. Etwa daß es dem Regisseur nicht gelungen ist, die obligatorischen Chöre am Ende, die von Migrantenschicksalen und von der Gewalt gegen Menschen aus der Dritten Welt berichten, zwingend mit Shakespeares Stoff zu verknüpfen; daß sich die Groteske, die gerade als Darstellungsform unzumutbarer Grausamkeit durchaus plausibel erscheint, stellenweise an Gags verrät; daß der Rhythmus oft nicht stimmt, wenn die Schauspieler von einer Position in die andere buchstäblich hüpfen müssen. Aber Lösch hätte es verdient, daß man sich mit seinem Konzept ernsthaft auseinandersetzt. Ironie jedenfalls, die man sich bei Journalisten mehr in der Form der Selbstironie wünschte, wird der Aufführung nicht gerecht.
Wenn jemand die Ansicht äußert, daß die Hungernden aus der Dritten Welt nach Europa kommen werden, um sich zu holen, was ihnen seit Jahrhunderten vorenthalten wird, und daß das nicht ohne Gewalt abgehen wird – sagt er dann, daß man diese Menschen bekämpfen, sie gar ausrotten muß? Nichts dergleichen sagt er. Aber es wird ihm von Kritikern unterstellt. Auf den Gedanken, daß, wer vor der voraussehbaren Gewalt angesichts der globalen Ungerechtigkeit warnt, dabei im Sinne haben könnte, den Unterprivilegierten zu helfen, um der Gewalt zuvorzukommen – nein, auf diesen Gedanken kommen sie nicht.
Wenn den Prognostikern einer bevorstehenden Völkerwanderung reflexartig die Befürwortung von Abwehrgewalt angelastet wird, dann liegt das nicht an deren Äußerungen, sondern im Auge des Betrachters. Er projiziert seine Befürchtungen, die durchaus ihre Gründe haben, ins Gegenüber und hört Schlußfolgerungen, die nicht notwendig impliziert sind.
Was ergibt sich daraus? »Wie handelt man Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?«, heißt es im Gedicht »Der Zweifler« von Bertolt Brecht.
Thomas Rothschild
Der Dandy und der Attentäter
Die
Junge Freiheit, bisher einzige Wochenzeitung der Neuen Rechten in der Bundesrepublik mit Zugang zum Medienmarkt, bekommt Konkurrenz im eigenen politischen Milieu: Das
Ostpreußenblatt hat sich zur
Preußischen Allgemeinen Zeitung, zur »unabhängigen Zeitung für Deutschland« erhoben und dringt in die Kioske und Kaufhäuser vor, um »einfach preußisch« einem breiten Publikum »Klartext für Deutschland« zu vermitteln. Modethemen sind da unvermeidlich, und so enthüllt die
Preußische Allgemeine denn auch, wer in die »pädagogischen Abgründe der Odenwaldschule« verlockt hat: Der »Dandy Stefan George« war es, dessen Ideen von »homoerotischer Leidenschaft und Knabenliebe« so manchen Reformpädagogen auf die schiefe Bahn gebracht haben, pfui Teufel.
Die
Preußische Allgemeine wirbt für sich mit drei deutschen Heroen: Friedrich »dem Großen«, Bismarck und Graf Stauffenberg – »ihr Erbe verpflichtet uns«. Aber war da nicht etwas zwischen Stefan George und Claus Schenk Graf Stauffenberg? Das scheint sich zu den Ostpreußen noch nicht durchgesprochen zu haben.
Peter Söhren
Press-Kohl
»Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) setzte sich am 1. Mai auf die Bornholmer Straße. Medienwirksam hielten er und andere Politiker den Marsch von Neonazis durch Prenzlauer Berg minutenlang auf. ›Ich kann nicht andere zur Courage aufrufen und selbst nicht couragiert handeln‹, begründete er sein Handeln. ›Mein Amt schränkt meine staatsbürgerlichen Pflichten nicht ein.‹ Neben ihm saßen unter anderen Pankows Bezirksbürgermeister Matthias Köhne (SPD) sowie ein Kenner der Versammlungsrechtsmaterie, der Grünen-Abgeordnete und frühere Justizsenator Wolfgang Wieland.« Die Berliner Zeitung ließ uns am nächsten Tag wissen, wer denn nun der wahre und wirkliche Kenner der Versammlungsrechtsmaterie ist: die hiesige Staatsanwaltschaft: »Nun prüft die Staatsanwaltschaft den ›Anfangsverdacht eines strafbaren Verhaltens‹, Denn das Blockieren einer genehmigten Demo ist nicht erlaubt.«
Wenn Thierse sich aus guten Gründen mal auf die Straße setzt, so hätte er vorher um Erlaubnis bitten müssen, denn das ist nicht erlaubt. Aber den Aufmarsch der Neonazis zu erlauben – das ist erlaubt.
Felix Mantel