Heute verstehe ich besser, warum Brecht mit Psychologie nicht viel im Sinn hatte, jedenfalls was Theater und Politik betrifft. Er nannte sie eine kostengünstige Geheimwaffe. Noch heute höre ich seinen schrillen Ausruf: »Das ist ja Psychologisieren!« Es ging um Richard den Dritten. Ein Schauspieler war zum Vorsprechen gekommen. Bevor er mit dem Eingangsmonolog begann, legte er sein Gesicht in düstere Falten und sprach mit gequetschter Stimme. Befragt, warum er das tue, antwortete er schlicht: »Das ist doch ein Schurke, der mit Buckel und Klumpfuß auf die Welt gekommen ist und sich nun an der gesunden Welt dafür mit Mord und Totschlag rächt.«
Abgesehen davon, daß die »gesunde« Welt zu Richards Zeiten ein Tohuwabohu war, in dem Mord und Totschlag zur politischen Tagesordnung gehörten, und daß die anderen Figuren im Stück wesentlich mehr Dreck am Stecken haben, unterschlug das »Psychologisieren« eine ganze grausame Epoche englischer Geschichte (Marx nannte sie »ursprüngliche Akkumulation«) und machte eine einzelne Person zum hassenswerten Schurken, der das alles verursacht haben soll. Nun war aber gerade Richard III. in Wirklichkeit einer der populärsten, reformfreudigsten Könige der englischen Geschichte. Was Brecht da dem völlig verdutzten Schauspieler so heftig als »Psychologisieren« vorwarf, war nicht nur eine übliche Verfehlung des Schauspielers, sondern eine weitverbreitete Methode auch der Politik, der sich selbst Shakespeare nicht entzog: Gegenwart zu erhellen, indem man Vergangenheit schwarz färbt. Die Verbrechen des damaligen neuen Herrscherhauses, der Tudors, immerhin Shakespeares Geldgeber, sollten vergessen gemacht werden. Darum mußte Vorgänger Richard so schwarz erscheinen, daß die herrschende Düsternis der Gegenwart etwas heller wirken konnte. Richard wurde zum Inbegriff des Schurken, und ohne viel Kostenaufwand erreichte man mit der Geheimwaffe des Psychologisierens, daß er bis heute als der Hauptschuldige an den Greueln des Rosenkrieges gilt.
Brechts Aufschrei »Das ist ja Psychologisieren!« war eben alles andere als nur eine Regieanweisung. Es war Protest gegen die Methode, durch »Verschurkung« einzelner Figuren den wirklichen Verlauf der Geschichte zu verfälschen.
Nun sah ich vor kurzem zufällig in der S-Bahn in der Hand einer Mitfahrenden eine Zeitung, die den Tarnnamen Bild trägt, damit man nicht merkt, daß sie ein Lehrbuch systematischer Unbildung ist. Auf der Titelseite war das riesige Bild eines Schurken zu sehen, der ein Abbild jenes 3. Richard zu sein schien. Allein die schiefblickenden Augen verrieten Abgründe an Abgefeimtheit gegenüber der Welt. Und in fetten Buchstaben las man, so sehe der Tyrann aus, »der sein Volk schlachtet«. Es war Gaddafi.
Selbstverständlich wissen die Bild-Redakteure, was die wirklichen Verbrechen Gaddafis sind: Er verstaatlichte das Öl, das die Amerikaner beanspruchen, enteignete die Banken und Teile der Großindustrie, schaffte das Bildungsmonopol ab, organisierte die kostenlose Gesundheitsfürsorge, reduzierte die Arbeitslosigkeit und schaffte für nordafrikanische Verhältnisse den höchsten Lebensstandard. Und noch eine Untat kann ihm nachgesagt werden: Er war einer der besonders gern gesehenen Gäste an europäischen Regierungshöfen und hat sogar dem ewig scherzenden Sarkozy, der am Ende war, den letzten Wahlkampf finanziert.
Es ist klar, daß dieser Gaddafi, der durch das Beispiel Libyen alle Preise verdirbt, nicht nur den des Öls, weg muß. Aber da es lebensgefährlich wäre, gegen die wirklichen Leistungen dieses Mannes zu polemisieren, ging man bei Shakespeare in die Lehre und bei seiner »kostengünstigen Geheimwaffe«, wie Brecht das »Psychologisieren« nannte. Ein neuer Richard mußte her, dem es schon mit seinen ersten Sätzen des Eingangsmonologs bei genügender Verzerrung von Gesicht und Stimme gelingt, alle Verdienste des wirklichen Königs Richard zum Teufel zu jagen; der so entstehenden Schurke Richard erklärt dann alles, was im Stück an Schurkerei folgt. Er ist Ursache aller Schrecknisse dieser Welt. Die Kosten des Psychologisierens sind gering, die Wirkung enorm.
Die Frau neben mir in der S-Bahn, die Bild las, wobei ich der langen Fahrt wegen ein wenig kiebitzte, hielt mir plötzlich, obwohl ich sie gar nicht kannte, Bild
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Humanitärer Massenmord
Wochenlang bombardieren unsere NATO-Verbündeten libysche Städte, als hätte es das Völkerrecht, das die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und vor allem den Angriffskrieg verbietet, nie gegeben. An der Zahl der Toten, der Verletzten zeigt sich die deutsche Monopolpresse desinteressiert. Hunderttausende Flüchtlinge – kein Thema. Milliardenschäden – Details, mit denen man uns nicht belasten will. Es geht ja um irgendwas Höheres. Und gegen »Schurkenstaaten« ist massenmörderische Gewalt allemal humanitär.
E.S.
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in aller Breite von die Nase mit dem glücklichen Ausruf: »Sehen Sie sich das Bild an, und Sie wissen alles. Es wird Zeit, daß man sowas auslöscht. Schon allein dieser stechende Blick. Da braucht es keine große Erklärung mehr. Davon muß das arme libysche Volk befreit werden!« Damit faltete sie
Bild sorgsam zusammen und stieg befriedigt aus.