So viel politische Partizipation war nie: Tag für Tag dürfen elektronisch versorgte BundesbürgerInnen auf den Webseiten der Zeitungen und in Internetforen abstimmen, ob man sich über die Liquidierung Bin Ladens freuen soll oder nicht, ob ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone uns Deutschen gut oder schlecht bekommen werde und so weiter und so fort. Und allwöchentlich können sie in repräsentativer Auswahl über den Kurswert der Parteien und ihres Führungspersonals mitbestimmen, zum Beispiel Steinmeier nach unten und Trittin nach oben drücken oder der FDP den demoskopischen Garaus machen. Selbstverständlich bedarf das Volk, wenn es solche Meinungen äußern soll, der sortierenden und ordnenden Hilfe; diese wird von den Vordenkern der Pressekonzerne und den führenden Meinungsforschern gern geleistet. Sie geben vor, welche PolitikerInnen als prominent zu betrachten und deshalb zu bewerten sind und auch, welche politischen Probleme denn einer Stellungnahme ausgesetzt werden sollen – in der Regel so, daß »Ja«, »Nein« oder »Weiß nicht« geäußert werden kann. Der Demoskop weiß: Richtige Fragestellungen bringen die richtigen Antworten, eigenwilliges Nachdenken läßt sich den Befragten ersparen.
Politikprominente oder diejenigen, die es werden wollen, haben gelernt, daß auf die Nähe zu den Gestaltern öffentlicher Aufmerksamkeit alles ankommt, und dafür ist ständig harte Arbeit zu leisten: Kurze Statements sind zu erfinden, die massenmedial Neuigkeitswert haben, für den Auftritt in der nächsten TV-Show ist ein flotter Spruch bereitzuhalten. Karl Theodor zu Guttenberg kann in dieser Hinsicht als Vorbild gelten, freilich hat die Energie, die ihn das kostete, nicht genug Muße zugelassen, die er gebraucht hätte, um nebenher auch noch eine wissenschaftliche Arbeit anzufertigen.
Beharrliche Teilnahme an der Willensbildung in den Parteien, Meinungsaustausch mit dem gemeinen Volk, dauerhafte Beschäftigung mit Inhalten der Politik, der schöne »Diskurs«, den der Philosoph Habermas beschrieben hat – woher die Zeit dafür nehmen? Der Pressespiegel am anderen Morgen belohnt keinen abendlichen Besuch im Arbeitslosenzentrum oder auch am lokalen Stammtisch, es sei denn, ein überregionaler Medienvertreter ist dorthin beordert worden.
»Bindungsbruch« kann man das nennen, wenn zwischen dem Souverän und seinen Repräsentanten die Verständigungsbasis bröckelt; die permanente Demoskopie lenkt davon ab. »Zerfallsreaktionen« bei Bindungsbrüchen hat Angela Merkel einst erforscht, physikalisch-chemische. Und in der Demokratie? Da ist die Bundeskanzlerin fachlich nicht zuständig.