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Titel1011

Entrückte Bildungsrepublik  (Sebastian Triesch)

1999 unterschrieben 29 Bildungsminister in Bologna eine Erklärung über den »Europäischen Hochschulraum«. Auch wenn der Titel es vermuten läßt, war diese Erklärung kein Projekt der Europäischen Union; auch Nichtmitglieder der EU wie Norwegen oder auch Aserbaidschan beteiligten sich. In der Erklärung sind die Ziele formuliert: die europäischen Hochschulen international »wettbewerbsfähig« zu machen, eine höhere Mobilität der Studenten zu erreichen, und sie besser auf das Berufsleben vorzubereiten. Hauptabsicht war die Anpassung vieler Studiengänge an das angelsächsische Bachelor- und Master-System. Das mißlang. Selten wurde eine Reform so vehement von so unterschiedlichen Gruppen und Institutionen kritisiert wie diese, besonders in Deutschland.

Als bildungsbürgerliche Stimme hält die FAZ die Reform und auch ihre Umsetzung für im Ansatz falsch; sie beklagt, daß man »den guten alten Wilhelm von Humboldt mit seinen hehren Idealen von umfassender Bildung über Bord« geworfen habe. Den Geist der freien Forschung habe man durch Verschulung und den Zwang, Drittmittel einzuwerben, von den Universitäten vertrieben.

Studentischer Protest gegen die Reform äußerte sich am stärksten 2009 beim bundesweiten »Bildungsstreik«. Die Studenten kritisierten die allenthalben spürbare Verfestigung der Studiengänge: Es ist kaum mehr möglich, Wege außerhalb der vorgegebenen Strukturen zu beschreiten. Sklavische Anpassung des Studiums an »Verlaufspläne« und die Bündelung der Energie für Klausuren, sogenannten »Modulabschlußprüfungen«, lassen ein selbstbestimmtes, von eigenen Interessen geleitetes Studium kaum zu. »Adornos Dialektik verträgt nicht diese Hektik« war einer der prägnanten Slogans auf vielen Demonstrationen.

Überfüllte Veranstaltungen und der allgegenwärtige Prüfungsdruck werden von den Studierenden immer wieder als Hauptkritikpunkte genannt. Gerade in den ersten Semestern sitzen viel zu viele in den Seminaren und hören Kurzreferat um Kurzreferat, weil jeder Studierende seine Prüfungsleistung erbringen muß – das stärkt nicht die Motivation und vergrößert nicht den Lernerfolg. Für Diskussion, gedankliche Einordnung oder vertiefende Reflexion bleibt dann kaum Zeit, aber gerade in den Geisteswissenschaften käme es oft genau darauf an. Eine intensive Beschäftigung mit einem Thema ist nur noch in schriftlichen Hausarbeiten möglich. – In den nächsten Jahren dürften sich diese Negativeffekte noch verstärken. Durch die Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre in den meisten Bundesländern, die zum Entstehen von »Doppeljahrgängen« führt, und der »Aussetzung« der Wehrpflicht werden noch 2011 oder, wie in Berlin, 2012 so viele junge Menschen anfangen wollen zu studieren wie noch nie. Wie sie untergebracht und betreut werden sollen, ist weithin unklar.

Die Reform führte auch zum Abbau fester Arbeitsplätze an den Universitäten. Dagegen erhöhte sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der befristeten und schlecht bezahlten »Lehraufträge« (durchschnittlich 500 Euro für ein Semester) um 40 Prozent. Eine Studie des Deutschen Hochschulverbands kommt zu dem Schluß, daß »manche Lehrbeauftragungen unter dem Verdacht [stehen], eigentlich Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern vorbehaltene Lehraufgaben für wenig Geld zu delegieren«. Der gesellschaftliche Trend, kurzfristig billige Arbeitskräfte einzustellen, verschont auch die Universitäten nicht.

Und wenn die Professoren zwischen Antragsschreiberei und Drittmitteleinwerbung noch Zeit haben, dann klagen auch sie über die Reformen. »Man sagt ›Bachelor‹ und setzt die McDonaldisierung der deutschen Universität in Gang: Fast Food entspricht Fast Education. Modualisierung löst die in Jahrzehnten gewachsenen Fachstandards und Diskursfelder auf«, schrieb der Soziologe Ulrich Beck in der Frankfurter Rundschau.

Nachdem Bundesbildungsministerin Schavan die studentischen Proteste anfangs noch als »gestrig« abgetan hatte, rangen sich die Kultusminister der Länder zu einer Erklärung durch, in der sie im altbekannten Duktus von »Umsetzungsproblemen« bei der Reform sprachen. Doch bis zur angestrebten »Bildungsrepublik« ist es ein weiter Weg. Man wird dort nie ankommen, wenn man meint, eine im Kern schlecht gedachte Reform nur besser »umsetzen« zu müssen.