Unser Begriff von der Norm hakt. Er ist zu eng, zu streng, zu starr, wir können ihm nicht genügen. »Kinder sind anders« ist daher der Wahlspruch der Reformpädagogen, die seit Jahrhunderten die Erfahrung machen, daß man »gestörten« Kindern helfen kann.
Comenius, Rousseau, Itard, Montessori, Wichern, Pestalozzi, Freinet, Korczak haben es aufgeschrieben: Sie trafen verzweifelte, vermauerte, zuckende und apathische Kinder, Kinder, die einnäßten und sich unsozial verhielten, Kinder, die verschlagen und grausam waren – und die dann lernten, sich sozial zu verhalten, einzig durch Liebe und Ermutigung und Anregung. Sie lernten, weil die Erwachsenen an sie glaubten. Pädagogische Projekte, Häuser, Heime, Schulen entstanden, in denen diese Kinder erweckt wurden, aufatmeten, fürs Leben ermutigt wurden.
Heute kommt in der pharmazeutisch geprägten Medizin die Vorstellung wieder hoch, das Kind selbst sei die Ursache allen Übels. In den Gehirnen seien Synapsen falsch verschaltet, und das sei schon genetisch angelegt. Schon seit Jahrhunderten wollen Mediziner das beweisen und damit aller pädagogischen Bemühung die Berechtigung absprechen, zum Wohle einzig helfender körperlicher Eingriffe und medikamentöser Retter, die, lebenslang genommen, die Synapsenfalschschaltungen vielleicht beheben könnten. Hat sich jemand jemals mit der Frage beschäftigt, ob die bei verhaltensauffälligen Kindern auftretenden Synapsen- und Serotoninprobleme möglicherweise als Folge erregenden Verhaltens auftreten und daher für die Ursachendiskussion bedeutungslos sind? Und da Ritalin und andere Mittel hohe Profite abwerfen, sollte man mißtrauisch sein, wenn plötzlich wieder medizinische Eingriffe und Medikamentengaben sozialpsychologische Probleme lösen sollen.
Die Aufgabe der Pädagogen ist es und war es immer schon, Kindern mit uneingeschränkter Liebe und Zuversicht zu begegnen. Sie müssen ermutigen, anregen und an die Kräfte der Kinder glauben. In Kindern ist eine enorme Kraft angelegt. Sofern sie nicht von Anfang an gebrochen wird, ist sie die Quelle, aus der der Pädagoge schöpfen muß. Von den Bedürfnissen der Kinder her muß er seine Pädagogik aufbauen, von den Ideen der Kinder her seine Spielvorschläge, von ihren Gefühlen herkommend seine Lösungen anbieten. Ein solches pädagogisches Konzept kann nie starr sein, kann keine Normen, wie man sein soll und wie man nicht sein soll, akzeptieren, sondern muß zunächst einmal alles gelten lassen, was da ist, allem hinterherforschen, überall nach dem Ursprung fragen, Tränen trocknen, Angst betrösten, Fröhlichkeit stärken, Bewegungsdrang nicht einengen, Schlafen und Essen niemals erzwingen wollen, weil das nicht geht, Güte vorleben, Wut zulassen und produktiv umwandeln, Neugier niemals einengen, Talente und Vorlieben fördern und, was das Wichtigste ist, sich von niemandem einreden lassen, daß manche Kinder von Natur aus faul und unnütz seien. So etwas gibt es nicht. Viele Kinder leiden unter zu wenig Liebe, weil viele Erwachsene das Lieben verlernt haben. Auch dafür gibt es Ursachen, und auch die kann man analysieren.
Wenn ich – von Berufs wegen – pädagogische Einrichtungen besuche, erlebe ich es leider noch sehr oft, daß die alten pädagogischen Ansichten Triumphe feiern, ich sehe, daß Kinder beschimpft, gedemütigt, herabgesetzt, verspottet werden, daß ihnen unentwegt Schuldgefühl eingeredet wird. Und das beginnt, man mag es nicht glauben, schon im Säuglingsalter: seelische Verwahrlosung, ein Symptom sozialer Unterdrückung.