Seit dem Schengener Abkommen von 1990 bildet eine restriktive Asyl- und Migrationspolitik den Kern der EU-Innenpolitik. Längst werden die EU-Außengrenzen verstärkt abgesichert. Dazu dienen die verschärften technischen Grenz-überwachungs- und -sicherungsmaßnahmen (EUROSUR), die Grenzschutzagentur Frontex, ihre schnellen Eingreiftrupps und Patrouillen im Mittelmeer und Atlantik (s. den Beitrag von Ulla Jelpke in diesem Heft). Auch mit Präventivinstrumenten wie dem stark ausgebauten Schengener Informationssystem und seinen mehr als elf Millionen Datensätzen sowie dem Netzwerk für Asylfragen (EURASIL) und dem »Frühwarnsystem« Einwanderung (CIREFI) soll die »Festung Europa« gegen Menschen abgeschottet werden, die vor politischer Unterdrückung, aus Kriegs- und Krisengebieten und wirtschaftlichem Elend fliehen.
Oft mit tödlichen Folgen: Denn diese hochgerüstete, immer weiter in außereuropäische Gefilde vorverlagerte Flüchtlingsabwehr kostet Tausende von Menschen das Leben, die in Europa Schutz suchen wollten. Entlang der europäischen Außengrenzen sind menschenrechtsfreie Räume entstanden, und das Mittelmeer wird zum Massengrab. 2011, im Jahr des Umbruchs in Ägypten und Tunesien und des Krieges in Libyen, sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) mehr Flüchtlinge auf dem Weg von Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa ums Leben gekommen als je zuvor: Über 1.500 sind ertrunken oder verschollen – wahrscheinlich aber weit mehr. Für dieses Massensterben trägt Europa Mitverantwortung, so die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. »Was sich auf dem Meer vor unseren Küsten abspielt, ist die größte Schande Europas«, sagt Stefan Schmidt, Kapitän der Cap Anamur, der wegen der Rettung von Flüchtlingen angeklagt, schließlich aber freigesprochen wurde. Schätzungen zufolge ertrinkt jeder vierte Flüchtling im Mittelmeer. Europa schaut weg, setzt weiter auf Abschreckung unerwünschter Migranten und Schutzbedürftiger – und niemand muß sich bislang für die Opfer dieser Flüchtlingspolitik verantworten.
Zu diesem dunklen Kapitel europäischer Gemeinschaftspolitik gibt es ein informatives und lesenswertes Buch von Jürgen Gottschlich und Sabine am Orde, eine Art Kompendium in Sachen EU-Abschottung, aber auch in Sachen möglicher Gegenwehr: »Europa macht dicht. Wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand?« Darin zeigen die Autoren die fatale Preisgabe der Menschenrechte an Europas Grenzen. Sie zeigen, wie die EU zunehmend Länder an ihren Außengrenzen in ihr Grenzregime einbindet, die dann die Last der Abwehr, der (menschenunwürdigen) Internierung in Auffanglagern und der Abschiebung zu tragen haben. In ihrem »Manifest für ein Europa der Humanität und Solidarität« fordern die Autoren zusammen mit Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen eine neue Flüchtlings- und Einwanderungspolitik für Europa und Deutschland.
»Es ist ein Skandal: Die EU schottet sich ab gegen Flüchtlinge, deren Armut sie durch ihre fragwürdige Wirtschafts- und Subventionspolitik zum Beispiel in Afrika zu großen Teilen mitverursacht«, heißt es in dem Buch. Tatsächlich hat Europa gegenüber Flüchtlingen und Migranten gerade aus Afrika nicht nur eine aus den blutigen Kolonialkriegen und -verbrechen resultierende Verpflichtung – Europa trägt auch Verantwortung für die Kumpanei mit Diktaturen und Unterdrückern, für skandalöse Waffenlieferungen und Ressourcen-Ausbeutung sowie für die verheerenden Folgen der EU-Agrar- und Wirtschaftspolitik auf dem afrikanischen Kontinent. Fischfangrechte vor der westafrikanischen Küste, Agrarsubventionen, Spekulation mit Agrarrohstoffen: Die wirtschaftlichen Interessen der reichen westlichen Länder verursachen systematisch Armut und Verelendung in Afrika. Millionen Menschen werden ihrer Lebensgrundlagen beraubt und zu Flüchtlingen gemacht. Deshalb fordert die Internationale Liga für Menschenrechte (www.ilmr.de) schon lange »ein grundlegendes Umdenken der EU«: »Die Wirtschaftspolitik muß davon abkommen, den hemmungslosen Raubbau an Ressourcen – weltweit und speziell in Afrika – zu stützen. Die Sozialpolitik muß Zufluchts- und Migrationswege nach Europa schaffen und schützen.«
Selbst die für die europäische Flüchtlingspolitik zuständige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström (Schweden) kritisiert die Flüchtlingspolitik der EU-Mitgliedsstaaten als »fremdenfeindlich« und »äußerst deprimierend«. Und auch die Rechtsprechung liest der EU und ihren Mitgliedsstaaten die Leviten: So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Hirsi und andere gegen Italien« (Az. 27765/09) am 23. Februar 2012 eine für den Schutz von Flüchtlingen in Europa wegweisende Entscheidung gefällt. In diesem Fall hatte ein italienisches Militärschiff südlich von Lampedusa 24 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea auf hoher See gestoppt und nach Libyen verbracht. Solchen Praktiken hat nun der EGMR einen Riegel vorgeschoben: Der menschen- und flüchtlingsrechtlich verbriefte Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) ist auch auf hoher See zu beachten. Die Vertragsstaaten können sich ihren Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UN-Flüchtlingskonvention nicht entziehen, indem sie Grenz- und Migrationskontrollen auf Hohe See vorverlagern. Wer Schutz vor Menschenrechtsverletzungen sucht, muß das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren an Land bekommen, in dem sein Antrag individuell geprüft wird. Im Fall der Ablehnung müssen den Betroffenen effektive Rechtsschutzmöglichkeiten mit aufschiebender Wirkung zur Verfügung stehen.
Damit hat der EGMR der Grenzschutzstrategie vorverlagerter Migrationskontrollen und menschenrechtswidriger Rückführungen eine klare Absage erteilt, so das Deutsche Institut für Menschenrechte. Dies muß dazu führen, daß der europäische Flüchtlingsschutz neu geregelt und die menschenrechtlichen Verpflichtungen beachtet werden. Auch die Bundesrepublik steht in der Verantwortung und muß unverzüglich Konsequenzen ziehen. Es ist höchste Zeit.
Jürgen Gottschlich/Sabine am Orde (Hg.): »Europa macht dicht. Wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand?«, Westend-Verlag, 220 Seiten, 12,99 €; Hendrik Cremer: »Den europäischen Flüchtlingsschutz neu regeln«, erschienen in: aktuell 1/12 des Deutschen Instituts für Menschenrechte (www.institut-fuer-menschenrechte.de);