Die EU-Grenzschutzagentur Frontex baut sich zusehends zu einer allgemeinen Grenzpolizei auf. Die Bekämpfung der »illegalen« Migration in die Europäische Union war ein Vehikel, jetzt werden nach und nach die Zeichen auf Grenzpolizei gestellt. Noch werden die Ansprüche zurückhaltend formuliert – aber der Zuwachs an Kompetenzen, den Frontex derzeit erfährt, spricht eine deutliche Sprache.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2005 hat Frontex eine rasante Entwicklung durchgemacht. Damals stemmte die kleine Agentur mit wenigen Mitarbeitern gerade einmal eine sogenannte Gemeinsame Operation: Über mehrere Monate wurden osteuropäische Staatsangehörige bei der Ausreise darauf überprüft, ob sie ihre erlaubte Aufenthaltsdauer überschritten hatten. Damit sollten »overstayers« entdeckt werden, also Menschen die länger bleiben, als in ihrem Visum vorgesehen. Dies ist der wohl häufigste Weg in die aufenthaltsrechtliche Illegalität.
Das zweite größere Vorhaben von Frontex war eine Machbarkeitsstudie mit dem Titel »Medsea«. Darin wurde die Möglichkeit eines Patrouillennetzwerks im Mittelmeer unter Einschluß der europäischen und der afrikanischen Anrainer dargestellt. Die Folgestudie »Bortec« untersuchte die Möglichkeit, neben diesem Patrouillennetz ein Überwachungssystem zu schaffen, um die komplette südliche Seegrenze der EU überwachen zu können.
Beide »Machbarkeitsstudien« sind danach in konkrete weitere Schritte zu einer lückenlosen Überwachung der südlichen Seegrenzen der EU überführt worden. Das Europäische Patrouillennetzwerk (EPN) sorgt dafür, daß die Seepatrouillen der EU-Mittelmeerstaaten aufeinander abgestimmt sind. Über binationale Vereinbarungen (beispielsweise zwischen Spanien und Mauretanien) sind auch Drittstaaten dort eingebunden. »Bortec« und die Folgestudien haben zur Entwicklung des »Europäischen Grenzüberwachungssystems« (Eurosur) geführt. Die EU-Kommission hat einen Vorschlag für die Einrichtung dieses Systems im Jahr 2013 vorgelegt, der derzeit im Rat und im Europäischen Parlament beraten wird.
Im Eurosur-System sollen alle den jeweiligen nationalen Grenzbehörden zur Verfügung stehenden Daten über nationale Koordinierungsstellen vernetzt und damit für alle beteiligten Mitgliedsstaaten zugänglich gemacht werden. Auch auf die Erkenntnisse der Militärs, Geheimdienste, anderer EU-Agenturen zur Fischereiaufsicht und für die Seesicherheit sowie des Satellitenzentrums wird »Eurosur« zugreifen. Aus den Daten sollen ein »europäisches Lagebild« und ein »gemeinsames Informationsbild des Grenzvorbereichs« gewonnen werden, um die »Gefahrenlage« an den Außengrenzen, also die »Bedrohung« durch illegale Migration und andere Formen der grenzüberschreitenden Organisierten Kriminalität (Waffen-, Drogen- und Menschenschmuggel, Schmuggel von Warenfälschungen in die EU) besser einschätzen zu können. Eurosur wird von Frontex eingerichtet. Die Agentur soll das Kommunikationsnetz verwalten und die Lagebilder und das Informationsbild des Grenzvorbereichs erstellen. Eurosur sichert auf Antrag eines Mitgliedsstaates die Vorfeldbeobachtung von Häfen und Küstenabschnitten von Drittstaaten und die Überwachung bestimmter Schiffe oder Seegebiete, Wetterprognosen für Gebiete, in denen Schiffe der Grenzbehörden fahren wollen, bis zur Beobachtung von Grenzvorbereichen an den Landaußengrenzen (also Überwachung des Territoriums von Drittstaaten!). Frontex wertet dafür auch Satellitenbilder und Bilder von bemannten und unbemannten Fluggeräten (Drohnen) aus. Eurosur soll insgesamt 337 Millionen Euro kosten, unter anderem für die Einrichtung der »nationalen Koordinierungszentren«.
Mit Eurosur verstärkt die EU ihre Bemühungen zur lückenlosen Überwachung der Grenzen und des Grenzvorbereichs, also dem Meer und den Territorien von Drittstaaten. Mit den gemeinsamen Lagebildern, verbindlich eingeführten gemeinsamen Mechanismen für die Reaktion auf »Risiken«, besonders durch irreguläre Migration und Schmuggel, und durch die Zentralstellung von Frontex in dem gesamten System werden weitere Schritte hin zu einem weitgehend europäisierten und nur noch formal nationalstaatlichen System der Grenzüberwachung und -sicherung vollzogen. Durch die Einrichtung der »nationalen Koordinationszentren« wird auch der Aufbau der nationalen Behörden, deren Arbeitsweise und Vernetzung im Bereich des Grenzschutzes einander angeglichen. Für Frontex bedeutet all das einen nur schwer abzuschätzenden Machtzuwachs. Die Agentur wird weiterhin nur wenige eigene Mitarbeiter haben. Durch die Erstellung der »Lagebilder«, durch die Fortbildung der nationalen Beamten in den Koordinierungszentren und die Entscheidung darüber, in welchen Grenzabschnitten einzelne Mitgliedsstaaten durch Frontex unterstützt werden sollen, erhält die Agentur jedoch eine Zentralstellung in der strategischen Ausrichtung des Grenzschutzes aller EU-Staaten. Der Grenzschutz zumindest der Land- und Seegrenzen wird europäisiert, ohne daß die formale nationalstaatliche Zuständigkeit und damit ein Kernelement der Staatensouveränität offen in Frage gestellt würde.
Daß sich diese neue Stellung von Frontex inhaltlich nicht allein auf die Abwehr unwillkommener Migranten und Flüchtlinge, sondern auch auf alle anderen Formen grenzüberschreitender Kriminalität (Drogen- und Waffenschmuggel aus der und in die EU, Menschenhandel, Einfuhr gefälschter Produkte et cetera) beziehen wird, ist naheliegend. Und auch schon lange vorbereitet. In den quartalsweise erscheinenden Berichten des Frontex-Analyse-Netzwerks (ein Netzwerk aller EU-Grenzpolizeien zum Erkenntnisaustausch) sind neben den Statistiken zur irregulären Migration auch immer Kapitel zur illegalen Einfuhr von Zigaretten, Alkohol und Treibstoff (der in den östlichen Nachbarstaaten oft deutlich billiger zu haben ist) enthalten. Das Arbeitsprogramm 2012 der Agentur nennt die grenzüberschreitende Kriminalität in einem Atemzug mit der Grenzkontrolle (»Integrated Border Management«). Regelmäßig wird darauf hingewiesen, daß irreguläre Migranten die gleichen Routen in die EU nutzen wie Schmuggler und Waffenhändler und zudem die gleichen kriminellen Netzwerke im Hintergrund stehen.
Politisch wird der Kompetenzausbau für Frontex mit dem Schutz des »Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts« begründet, als der sich die EU versteht. Damit im Innern Sicherheit und Recht herrschen können, müssen nach EU-Logik die Grenzen effektiv geschützt werden. Daß diese Europäisierung des Grenzschutzes weit abseits jeder parlamentarischen Kontrolle im demokratiefreien Raum vonstatten geht, wird in der Öffentlichkeit leider kaum zur Kenntnis genommen.