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Ein europäischer Gedenktag?  (Eckart Spoo)

Die Totalitarismus-Doktrin, wie sie uns Joachim Gauck und andere Gelegenheitsphilosophen gern nahebringen würden, hat den Vorteil der Einfachheit und Eingängigkeit: Rot gleich Braun, basta! Ganz in diesem Sinne soll künftig jedes Jahr am 23. August ein »Europäischer Gedenktag für die Opfer aller totalitärer und autoritärer Regime« begangen werden – zur Erinnerung an den von Ribbentrop und Molotow, den beiden Außenministern, unterschriebenen Nichtangriffsvertrag, besser bekannt als »Hitler-Stalin-Pakt« vom 23. August 1939, wenige Tage vor der deutschen Invasion in Polen, der die sowjetische Rückgewinnung der nach dem Ersten Weltkrieg an Polen verlorenen russischen Gebiete folgte.

Gegen diesen Mehrheitswunsch des Europäischen Parlaments haben inzwischen viele Organisationen von Nazi-Opfern protestiert, auch in Abstimmung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem American Jewish Committee. Sie warnten davor, daß die angestrebte Gleichheit im Gedenken an die »Opfer aller totalitärer und autoritärer Regime« zu unhistorischen Gleichsetzungen und Relativierungen führen würde. Der Arbeitskreis der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten äußerte sich in diesem Zusammenhang »betroffen, daß die Stimmen der Überlebenden des NS-Terrors offenbar kaum noch gehört werden«.

Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, schrieb dieser Tage: »Wir wünschen den Opfern des Stalinismus einen würdigen Gedenktag, meinen allerdings, daß ein Europäischer Gedenktag zum 23. August Europa eher spalten wird.« Rußland, wo in der Stalin-Ära besonders viele Menschen unter Verfolgungen schwer gelitten haben, werde der Initiative des Europa-Parlaments wohl nicht folgen, gab Baumann zu bedenken. Und für Deutschland verbiete sich der Gedenktag von selbst, nachdem am 15. Mai 1997 der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen beschlossen habe: »Der 2. Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.«

27 Millionen Sowjetbürger, darunter viele Zivilisten, fielen dem deutschen Vernichtungskrieg zum Opfer – »der größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit in nicht einmal vier Jahren« (Baumann). Sollen dafür nun die Kommunisten gleichermaßen verantwortlich gemacht werden wie die Nazis?

Historische Tatsachen würden vernebelt, wenn künftig Jahr für Jahr der Eindruck erweckt würde, Hitler und Stalin hätten sich 1939 verbündet, den Zweiten Weltkrieg zu beginnen. In Wahrheit hatte sich die sowjetische Diplomatie vorher jahrelang vergeblich um ein antifaschistisches Bündnis mit Großbritannien und Frankreich bemüht, schon als es galt, die spanische Republik vor dem von Deutschland und Italien militärisch unterstützten Franco-Putsch zu schützen. Eine anschauliche Darstellung dieser Bemühungen geben die zeitnah verfaßten Memoiren des damaligen sowjetischen Botschafters in London, Maisky.

Fasziniert von Hitler, der die Arbeiterbewegung in Deutschland ausgeschaltet hatte und gegen die Sowjetunion rüstete, akzeptierten Großbritannien und Frankreich seine expansionistische Außenpolitik, noch bei der Münchener Konferenz mit Hitler und Mussolini. Auch Polen verweigerte sich einer Anti-Hitler-Koalition. Die Front verlief wie nach dem Ersten Weltkrieg, als deutsche Freikorps ebenso wie britische, französische, polnische, US-amerikanische, japanische und andere Truppen in den Interventionskrieg gegen die gerade erst entstehende Sowjetunion zogen und zeitweilig den weitaus größten Teil des Landes besetzten.

Der Vertrag vom 23. August 1939 hatte viele schreckliche Folgen, vor allem für Polen, aber auch für viele andere, nicht zuletzt für deutsche Antifaschisten. Aber er verschaffte der Sowjetunion eine Atem- oder Aufbau- und Aufrüstungspause; sonst wäre sie, vom vertragsbrüchigen Partner zwei Jahre später überfallen, schwerlich imstande gewesen, ihn zurückzuschlagen und ihm die weltkriegsentscheidenden Niederlagen zu bereiten.

Ohne die hier nur knapp skizzierte Vorgeschichte, die vielen Beteiligten peinlich ist, wird jedes Gedenken an den 23. August 1939 auf gefährliche Abwege führen.