Margaret Hilda Thatcher, Baroness Thatcher of Kesteven (geboren 1925) verschied am 8. April. Es gibt besonders im darbenden Norden Englands nicht wenige Angehörige der einst politisch starken Arbeiterklasse, die ihr die Hölle als angemessene letzte Ruhestätte wünschen. Das transnationale Finanz- und Industriekapital wiederum weint ihr gewiß so manche Träne nach, denn »Maggie« ermöglichte ab Mai 1979 – und bis zu ihrem Sturz im November 1990 – als Premierministerin des Vereinigten Königreichs den Siegeszug des Neoliberalismus, der seitdem in ganz EU-Europa sein Schreckensregime entfaltet. Die vom Kapital sehnlich erwünschte Privatisierung kam unter der Regierung Thatchers so massiv und ohne Rücksicht auf Wohlfahrtsverluste in Fahrt, daß bereits Ende der 1980er Jahre fast alle Staatsbetriebe verkauft und abgewickelt waren.
Nur mit der Bahn ging es nicht so zügig wie geplant voran. Aber ab 1992 – nun unter der neuen konservativen Regierung von Premier John Major – kam Schwung in die Sache. 1997 war das Privatisierungsabenteuer abgeschlossen. Zwar wollte das Management von British Rail das Unternehmen als Ganzes in Form einer AG privatisiert sehen, die Regierung setzte jedoch auf eine Zerschlagung in Franchise-Unternehmen, um den Gewinn zu maximieren. Mit dem ab 1994 wirksamen Railways Act wurde British Rail in ein Gebilde aus über 100 Unternehmen aufgeteilt und darüber ein Regulierungsregime etabliert. Die vorhandenen Bahnstrecken wurden in regionale Teile zerlegt, einschlägige Konzerne und (Bus-)Unternehmen können sich seitdem an Ausschreibungen für diese Teilnetze beteiligen.
Das britische Eisenbahnnetz ist das älteste der Welt. Nach der Eröffnung der ersten Personenverkehrsstrecke im Jahr 1825 entstanden Hunderte von Eisenbahngesellschaften, die 1922 in vier Gesellschaften aufgingen. 1948 erfolgte die Verstaatlichung der Bahn, wobei das Streckennetz im Zuge der Automotorisierung auf weniger als die Hälfte reduziert wurde. Heute umfaßt das Normalspurnetz rund 16.000 Kilometer. Nur ein Drittel davon ist elektrifiziert. Das Hauptstreckengerüst bilden fünf von London aus radial verlaufende Linien: die West Coast Main Line, die East Coast Main Line, die Midland Main Line, die Great Western Main Line und die Great Eastern Main Line. Hinzu kommen die Querverbindung von York nach Bristol sowie viele Vorort- und Regionalnetze. Die bislang einzige Hochgeschwindigkeitsverbindung ist der Channel Tunnel Rail Link von London auf den Kontinent. Die 109 Kilometer lange Strecke ist vom klassischen Schienennetz betrieblich getrennt. Von London aus sind Reisende im Eurostar schneller in Paris als in Liverpool oder Leeds. Anders gesagt: Bei der Entwicklung des Eisenbahnsystems hinkt das Vereinigte Königreich anderen Industrienationen fast hoffnungslos hinterher. Nun läßt sich darüber streiten, ob Hochgeschwindigkeitszüge wirklich das Maß aller Bahndinge sind, wenn zugleich der Regionalverkehr wie etwa in Deutschland heftig vernachlässigt wird. (Der deutsche ICE-Betrieb läuft seit 1989.) Dennoch sind sie für Premier David Cameron unverzichtbar, »wenn Großbritannien im globalen Wettbewerb erfolgreich sein will«. Und deshalb plant die konservativ-liberale Regierung eine neue Strecke von London bis Birmingham, die 2026 fertig sein soll sowie den weiteren Ausbau bis nach Manchester und Leeds, der 2033 fertig sein soll. Auf dieser »High Speed 2 (HS2)«-Trasse sollen sich die Fahrtzeiten eines fernen Tages halbieren – nach Manchester zum Beispiel von 128 Minuten auf 68 Minuten. Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze verspricht das Projekt HS2 im rezessionsgeplagten Land zwar so einiges, viele Anrainer der geplanten Baustrecke sowie rund 80 Bürgerinitiativen können sich dennoch nicht dafür begeistern. Immerhin sollen mehrere Hundert Häuser und Betriebe abgerissen werden und dürfte die Landschaftsidylle der Chilterns und Midlands durch Bahndämme und Viadukte erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. Kritiker bezweifeln grundsätzlich den Nutzen der auf 33 Milliarden Pfund geschätzten Investition, weil sie dem Großraum London mehr als den nördlichen Ballungszentren nütze. Wie dem auch sei – vor frühestens 2026 wird kein Ticket für die geplanten Schnellzüge zu haben sein. Ob bis dahin zugleich die notorischen Kapazitätsengpässe der privatisierten Bahn etwa durch einen stufenweisen Ausbau der bestehenden Linien sowie durch längere Züge und Bahnsteige erfolgt, sollte bezweifeln, wer die bisherigen Erfahrungen mit der »Bahnreform« kennt.
Heute wird der Zugverkehr auf der Insel von mehr als zwanzig privaten Unternehmen betrieben – unter anderen Virgin, London Overground, MerseyRail, First Capital Connect. Die Hälfte dieser »train companies« kommen bei Kundenumfragen auf eine Zufriedenheit von nicht einmal 50 Prozent, wobei mehr als 20 Prozent der Nutzer meinen, der Service würde generell schlechter als besser. Die Unternehmen müssen wirtschaftliche und sicherheitstechnische Bestimmungen erfüllen, die heute von verschiedenen Regierungsstellen erlassen werden. Die nach sieben bis 20 Jahren fällige Ausschreibung der Strecken im Personenverkehr gehört auch dazu. Die Konzessionsvergabe ist gebunden an Qualitätsbestimmungen wie Sauberkeit, Ausstattung, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Züge. Einige der Betriebsfirmen erhalten Subventionen. Etabliert wurde zudem ein einheitliches Buchungs- und Tarifsystem (ATOC). Der Güterverkehr ist inzwischen vollständig kommerzialisiert.
2011/12 verzeichneten die Statistiker 1,5 Milliarden Bahnfahrten, das waren doppelt so viele wie zu Beginn der Privatisierung. Allerdings wurde trotz der gestiegenen Nutzung von Zügen der Ausbau und die Modernisierung der Bahnstrecken extrem vernachlässigt. Das Verkehrsministerium bekennt durchaus selbstkritisch: »Wir haben ein Streckennetz aus dem 19. Jahrhundert, das damit überfordert ist, ein Wirtschaftssystem des 21. Jahrhunderts zu fördern.« Die Bahninfrastruktur – Schienen, Bahnhöfe, Betriebswerkstätten und Signale – befindet sich seit dem grandiosen Scheitern und Bankrott der privaten Gesellschaft Railtrack im Jahre 2002 zwar nun im Besitz der nicht-profitorientierten Gesellschaft Network Rail. Der Zustand des Schienennetzes bereitet den Experten aber nach wie vor ernsthafte Sorgen. Rund zehn Prozent der Schienenwege sind in einem schlechten Zustand. Apropos Railtrack: Aufgrund ihrer mehr oder weniger kriminellen Vernachlässigung der Bahninfrastruktur kam es in nur wenigen Jahren zu zahlreichen technischen Pannen und tödlichen Unfällen wie etwa dem bei Hatfield im Jahr 2000. Vorbei und vergessen?
Wenn es nach der aktuellen Werbung der britischen Tourismusbehörde geht, beginnt jenseits der viel besungenen White Cliffs of Dover so etwas wie ein Schlaraffenland der technisch gestützten Mobilität: »Das Bereisen des Landes ist dank des ausgezeichneten Bahn- und Straßennetzes und des Angebots an weiteren öffentlichen Verkehrsmitteln ein Kinderspiel. Schnelle Eisenbahnverbindungen lassen Sie von London aus den Rest Englands erreichen. Zwischen den größten Städten Englands fahren regelmäßig Züge, oft mehrmals pro Stunde.« In der Tat hat die Bahn heute eine der jüngsten Wagenflotten in Europa, sie wird viel genutzt, und die Betreiber rühmen die gesunkenen Kosten. Laut der EU-Kommission hat das britische Privatisierungsmodell sogar »Vorbildcharakter für eine erfolgreiche Marktöffnung«. Im nüchternen Blick von Befürwortern öffentlicher Bahnsysteme sowie auch der Reisenden sieht das Bild freilich ziemlich düster aus. Das Privatisierungsprogramm, das das Management und den Unterhalt der Bahnen, Signalsysteme und Schienen in zahllose Teilfirmen, Franchisebetriebe und regulatorische Verantwortlichkeiten zersplitterte, hat aus Großbritanniens einst weltweit führender Eisenbahn eines der veraltetsten, unzuverlässigsten und gefährlichsten Bahnsysteme in der Europäischen Union gemacht. Die über Jahrzehnte vernachlässigten Investitionen können zudem – schon aufgrund der Ebbe in den von der Finanzkrise geplünderten öffentlichen Kassen – wohl kaum in absehbarer Zeit angemessen »nachgeholt« werden. Eine Fahrt in einem britischen Zug, der, je nach Strecke, einem der besseren oder schlechteren, allemal profitorientierten Betreiber gehört, birgt denn auch viele wenig schöne Überraschungen, insbesondere extrem überfüllte Personenwagen, weil die Züge aus Kostengründen viel zu wenige mitführen. (Die Betreiber leasen in der Regel Lokomotiven und Wagen, und deshalb ist deren Anzahl knapp kalkuliert – was wiederum die Profite der Leasinggesellschaften treibt.) Die Reisenden fahren entweder in Wagen mit sehr eng gestalteten Sitzen oder auch in Wagen mit wenigen Sitzen und umso mehr Stehplätzen. Mangelnde Sauberkeit und geschickt getarnte Verspätungen inbegriffen. Inbegriffen sind auch die hohen Preise – sie sind deutlich höher als andernorts in Westeuropa.
Seit der Privatisierung in den 1990er Jahren sind die Ticketkosten bis 2012 um 17 Prozent gestiegen (während sich die Kosten für die Automobilität um sieben Prozent verringerten). Dieses Jahr werden die Preise erneut um rund sechs Prozent angehoben. Erheblich gestiegen sind – trotz der mangelnden Qualität – auch die Zuschüsse an die privaten Betreiber nebst ihren Unterfirmen. Sie liegen gegenwärtig fast dreimal so hoch und sprechen dem vorgeblichen Privatisierungserfolg Hohn. Einschlägige Skandale inbegriffen – wie jüngst bei der Ausschreibung der West Coast Line. Was Wunder, daß die Mehrheit der britischen Bevölkerung eine Wiederverstaatlichung der mit katastrophalen Folgen auf die »Privatschiene« gesetzten Bahn fordert. Die Passagiere fühlen sich vom Oligopol der privatisierten Bahngesellschaften als Kunden verhöhnt und über Gebühr ausgenommen. Einige Ansagen bei Zugverspätungen sind mit Fug legendär: Etwa die mit dem Hinweis, es gäbe »Laub auf den Gleisen«, die »falsche Art Schnee« oder »Taubendreck auf den Signalen«. Ach ja, die »National Rail Enquiries« im Internet warnen die Bahn-»Kunden« zeitnah, wenn mal wieder etwas mit der Privatbahn schiefgelaufen ist.