Die SPD behauptet von sich, sie werde in diesem Jahr einhundertfünzig Jahre alt. Ein solches Jubiläum paßt jetzt gerade, denn der Wahlkampf läuft an und der Partei geht es demoskopisch gar nicht gut, da ist Trost zu finden in der Geschichte. 1863 als Geburtsdatum der deutschen Sozialdemokratie? Das stimmt, wenn diese den legendären Ferdinand Lassalle als ihren Gründer ansieht. In Frage kämen auch August Bebel und Wilhelm Liebknecht, aber dann stünden die Feierlichkeiten erst später an, und wer weiß, ob die Partei diese Zeitspanne noch einigermaßen rüstig durchsteht.
Lassalle, ein vielseitig talentierter und couragierter Mann, trat lobenswerterweise für das allgemeine und freie Wahlrecht ein, das männliche jedenfalls, und er dachte dabei vor allem an die Arbeiter. Sie sollten mit ihren vielen Stimmen Druck machen auf die Bürgerlichen im Parlament und auf die Spitze des Staates. Beim Einfordern von demokratischen Modalitäten hatte Lassalle nicht so sehr die Binnenverhältnisse in seiner Partei im Sinn, in dieser Hinsicht war er Autokrat, er hielt sich selbst für eine Führernatur. Wenn ich der Erzeuger der Arbeiterpartei bin, so wird er gedacht haben, steht mir auch die väterliche Gewalt zu.
Zum innerparteilichen Monarchen wurde Lassalle jedoch nicht, viele frühe Sozialdemokraten fanden an seinem Parteimodell keinen Gefallen, und außerdem kam er bald zu Tode, bei einem Duell, das sehr private Gründe hatte.
Bebel und Liebknecht waren dann für eine Weile die Leitpersonen der rasch anwachsenden Sozialdemokratie, die sich nun als demokratische Mitgliederpartei organisierte. Es ging in ihr lebendig zu, aber bald schon machte sich ein Problem bemerkbar: Als »ehernes Gesetz der Oligarchisierung« hat es 1911 der Kritiker Robert Michels beschrieben, er hielt den innerparteilichen Machtzuwachs einer Gruppe von Hauptamtlichen, die für die Politik und zugleich von derselben leben, für bedauerlich, aber doch zwangsläufig in der »modernen Demokratie«. Womit ihm diese unsympathisch wurde, er entwickelte später eine Neigung zum italofaschistischen Konzept.
Größere und kleine Oligarchen gab es zweifellos in der sozialdemokratischen Parallelgesellschaft zu wilhelminischen Zeiten, als die Partei Massen von Mitgliedern für sich gewonnen hatte, über weitreichende eigene Medien verfügte und von gleichgerichteten Kulturvereinen und Gewerkschaften umgeben war. Aber die Mitglieder und Gliederungen der Partei waren keine Befehlsempfänger der Führung, konzeptionelle Konflikte wurden offen ausgetragen. Daß an der Basis der Sozialdemokratie nicht mit willenloser Gefolgschaft zu rechnen war, erwies sich während des Ersten Weltkrieges; ein erheblicher Teil der Mitglieder begehrte auf gegen das Bündnis, das die Vorstandsmehrheit mit den Eliten des Obrigkeitsstaates schloß, die »Unabhängige Sozialdemokratie« bildete sich, dann die Kommunistische Partei, nicht als spärliche Absplitterung, sondern als starke Kraft im Feld der Arbeiterbewegung. Die Folgen dieser Vorgänge für die Geschichte des Parteienspektrums und der Politik in Deutschland können hier nicht behandelt werden – festzuhalten ist nur: Die klassische deutsche Sozialdemokratie, was immer sonst an ihr zu kritisieren sein mag, hatte sich offenbar nicht in das Privateigentum von Spitzenfunktionären verwandelt.
Seitdem sind nahezu einhundert Jahre vergangen. Heute ist es geschafft, die SPD ist privatisiert, umgewandelt in eine Agentur zur Werbung von Stimmen, die Legitimation und Zugang herstellen für Positionen in Regierung und staatlicher Administration. Zum Teil handelt es sich um zeitweilige Beschäftigung in der Politik, also ist dabei der lukrative Wechsel in private Unternehmen schon vorzubereiten, welcher prominente Regierungspolitiker will heutzutage denn noch in die schlichte Parteiarbeit zurückkehren. Jetzt gilt: August Bebel, würde er in der »postmodernen Demokratie« tätig sein, müßte zumindest Bundesminister werden und dann schon mal Ausschau halten nach dem Konzern, der ihn nach seiner Amtszeit zum Superberater macht.
Eine Partei als Agentur für private Karrieren bedient sich bei den Entwürfen ihres Profils und der Gestaltung ihres politischen Auftritts der Leiharbeit, der bezahlten Phantasie von Gewerbetreibenden, da ist innerparteiliche, »ehrenamtliche« Aktivität, vom Ortsverein bis zum Bundesparteitag, eigentlich überflüssig. Aber das Parteiengesetz ist nun mal da, also ist das Ritual einzuhalten, und Delegierte mucken längst nicht mehr auf, einhundertprozentige Zustimmung bekam auf dem jüngsten Parteitag der SPD der Programmentwurf. Damit das gängige Verlangen nach »Partizipation« zufriedengestellt ist, dürfen beliebige Bürgerinnen und Bürger eine Postkarte schreiben, was sie sich von der SPD wünschen. So machen das auch Warenversandhäuser, um Kunden bei Laune zu halten.
Die Entscheidung für die Politik der Agenda 2010 wurde privat getroffen, von Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und einigen anderen VIPs in der SPD (nebst ihren außerparteilichen Beratern). Die Partei hatte dazu keinen Auftrag gegeben, sie wurde überrascht durch das Reformwerk.
Peer Steinbrück wurde in einem privaten Verfahren zum Kanzlerkandidaten gekürt; die Partei konnte dazu nur noch Ja und Amen sagen.
Privat wird auch entschieden werden, ob und zu welchen Bedingungen die SPD nach der Bundestagswahl in eine Regierung eintritt – falls sie dazu aufgefordert wird.
Es sind nicht immer dieselben Privatentscheider, die den Gang der Dinge in der SPD bestimmen, aber das ist in vielen Unternehmen außerhalb der Politik nicht anders, »liquid leadership« eben.
»Das WIR entscheidet«, heißt der Wahlslogan der Sozialdemokratie diesmal. »WIR entscheiden« könnte er lauten, als Botschaft der SPD-Geschäftsinhaber an die Mitglieder der Partei, diesen mitteilend: Zerbrecht euch nicht die Köpfe, wir haben euch diese Mühe abgenommen.