Der Begriff »Privatisierung«, das Zauberwort neoliberaler Geisterheiler, mit dem sie vorgeben jedes ökonomische Problem kurieren zu können, hat seit zwei Jahren auch in die Berichterstattung über Kuba Einzug gehalten. Zwar ist das Schlagwort hier nicht zu vernehmen, taucht in keiner Rede, keinem Grundsatzpapier und keinem Wirtschaftsplan auf, doch seit der sechste Kongreß der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) im April 2011 eine Reihe von Maßnahmen (Lineamentos) zur »Aktualisierung des sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells« beschlossen hat, berichten die westlichen Konzernmedien über diesen Prozeß fast immer unter ihrer Lieblingsüberschrift »Privatisierung«.
»Na also, geht doch«, rieben sich interessengesteuerte neoliberale Besserwisser die Hände, als sie deren Berichte lasen. Was über 50 Jahre Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA nicht vermochten, erledigt die Führung der PCC nun selbst. Ein Traum schien wahr zu werden. Doch wie so häufig hat die Realität auf der sozialistischen Karibikinsel kaum etwas mit dem zu tun, was die Mainstream-Medien von dort berichten.
Richtig ist, daß in Kuba – gut 50 Jahre nach dem Sieg der Revolution – eine umfassende Debatte über alle Bereiche der Gesellschaft angestoßen wurde. Ausgangspunkt war die Feststellung, daß das Land auch nach Überwindung der durch den Niedergang des sozialistischen Lagers verursachten Krise auf Dauer nicht mit seinen wirtschaftlichen Problemen fertig werden würde, wenn nicht Änderungen erfolgen. Für die ökonomischen Schwierigkeiten wurden zum Teil objektive Gründe genannt, wie etwa die strukturellen Zerstörungen zwischen 1992 und 1995, erhebliche Verwüstungen durch eine Folge besonders heftiger Hurrikane, die Auswirkungen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die Explosion der Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt und nicht zuletzt die Blockade durch die USA. Hinzu kommen noch hausgemachte Probleme wie ineffiziente Arbeitsabläufe, Transportprobleme, Qualitätsmängel, Bürokratie und eine auf allen Ebenen verbreitete Selbstbedienungsmentalität.
Seit mindestens zehn Jahren ist den Verantwortlichen bewußt, daß dringender Handlungsbedarf besteht. Das im wesentlichen seit über 50 Jahren unverändert bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell müsse von Grund auf und in allen Bereichen an die aktuellen Bedingungen angepaßt werden, um es vor dem Untergang zu bewahren.
Die Ziele und Methoden, die derzeit in Kuba zur Überwindung der ökonomischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten diskutiert und Stück für Stück umgesetzt werden, unterscheiden sich allerdings grundlegend von den in Europa und den USA praktizierten neoliberalen Modellen.
Bereits die Analyse der Probleme und die daraus abgeleiteten Maßnahmen weisen eine andere Herangehensweise auf. Die Diskussionsergebnisse aus zahlreichen Versammlungen in Gewerkschaften, den Verbänden der Frauen, Bauern, Jugendlichen und anderen sozialen Organisationen waren zu knapp 300 thesenartigen Vorschlägen zur Veränderung der Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammengefaßt worden, die dann – vor dem PCC-Parteitag – erneut in Betrieben, Verwaltungen, Universitäten und Wohnvierteln zur Debatte gestellt wurden. Dabei ging es um Themen wie mehr Autonomie für staatliche Betriebe, Erweiterung des Sektors der Kooperativen, Einführung privatwirtschaftlicher Strukturen für einfache Dienstleistungen, Betriebe des Gastgewerbes und in der Landwirtschaft, aber auch um die Veränderung der Reiseregelungen, Anpassungen der Rentenzugänge oder die schrittweise Abschaffung der Subventionierung von Grundnahrungsmitteln. Die Thesen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Bürger betreffen, waren landesweit in Zigtausenden Versammlungen von Millionen Beteiligten diskutiert und verändert worden. Auf dem Parteitag der PCC im April 2011 wurden die Ergebnisse nach nochmaliger Diskussion und Änderungen in 313 Richtlinien (Lineamentos) zusammengefaßt, die das Programm der wirtschafts- und sozialpolitischen Aktualisierungen für die nächsten Jahre bilden.
Man stelle sich einmal vor, die Beschäftigten in der Bundesrepublik hätten in dieser Form über »Hartz IV«-Gesetze, Rente ab 67, Aushöhlung des Kündigungsschutzes, Zulassung von Leiharbeit, Rentenkürzungen und Sozialabbau diskutieren und mitentscheiden können. Oder die Menschen in Griechenland, Zypern, Spanien, Portugal und anderen EU-Ländern würden darüber entscheiden dürfen, ob sie zur Rettung des Banken- und Finanzsektors ihre Existenzgrundlage verlieren wollen. Unvorstellbar.
Ähnlich verhält es sich mit dem Ziel der Umgestaltungen. Privatisierung in Europa ist immer eine Kapitulation des Staates vor den Interessen privater Investoren an öffentlichem Eigentum.
Auch hier schwimmt Kuba gegen den Strom. Die Analysen hatten ergeben, daß in vielen Sektoren, wie bei kleinen Landwirtschaftseinheiten oder im Dienstleistungsbereich, staatliche Betriebe ineffizient und teilweise kontraproduktiv sind. Zudem gibt es in vielen Bereichen einen erheblichen Beschäftigungsüberhang, der das Betriebsergebnis gegen Null oder sogar ins Minus drückt. Das gefährdet langfristig die Handlungsfähigkeit des Staates.
Die sozialen Errungenschaften der Revolution können auf Dauer nur gesichert werden, so das Fazit der Diskussionen, wenn es gelingt, die Effizienz zu steigern, ohne Arbeitslosigkeit zu verursachen. Dazu wurden Maßnahmen beschlossen, die in Deutschland als »Privatisierung« gefeiert wurden, unter anderem die Zulassung privater Dienstleistungen in Handwerk, Service, Transport, Gastgewerbe und für Freiberufler, außerdem die Vergabe brachliegenden Landes an Bauern zur Bewirtschaftung auf eigene Rechnung und die Ausweitung des Sektors von eigenständig wirtschaftenden Kooperativen.
»Der Staat zieht sich aus der Rolle als Unternehmer in den Bereichen der Kleinökonomie zurück und stärkt seine Position als Impulsgeber und bei der Steuerung von langfristig angelegten Großinvestitionen«, beschreibt die kubanische Wirtschaftswissenschaftlerin Yailenis Mulet von der Universität Havanna den gegenwärtigen Prozeß. Für Projekte mit hohen Investitionskosten brauche das Land ausländische Investoren. Bei allen derartigen Joint-Ventures behalte der kubanische Staat aber immer die Anteilsmehrheit. »Mit Privatisierung im neoliberalen Sinn hat das nicht das Geringste zu tun«, sagt sie.
Das Ziel aller Maßnahmen in Kuba sei nicht der Abbau sozialer Leistungen, die Kürzung von Einkommen und Renten sowie die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten, um ein System von privaten Profiteuren und Finanzspekulanten zu retten, sondern das genaue Gegenteil. Der Staat versuche die Wirtschaftskraft zu stärken, um die sozialen Errungenschaften der Revolution, das kostenlose Bildungs- und Gesundheitswesen und die Garantie der wichtigsten Grundversorgung für alle aufrechtzuerhalten. Um dies sicherzustellen, betont Ökonomin Mulet, »bleiben die strategischen Sektoren der Wirtschaft und die wichtigsten Produktionsmittel im staatlichen Besitz«. Die »Lineamentos« schlössen eine Konzentration von Eigentum in privaten Händen ausdrücklich aus. Denn, sagt Mulet, »wir wollen den Sozialismus nicht abschaffen, sondern überlebensfähig machen«.