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Titel1014

Verheerung. Schutt. Sumpf.  (Klaus Nilius)

»Spanien«, sagte Pablos Frau in erbittertem Ton ... »Es gibt kein zweites Land wie Spanien«, sagte Robert Jordan höflich. »Du hast recht«, sagte Fernando. »Auf der ganzen Welt gibt es kein zweites Land wie Spanien.«

Die beiden Guerillas und Robert, der amerikanische Partisan, der in dem von Paul Baudisch übersetzten Hemingway-Roman »Wem die Stunden schlägt« in einer Episode des Spanischen Bürgerkriegs für die republikanische Seite eine Brücke in den Bergen sprengen soll, hatten damals, vor bald 80 Jahren, vielleicht recht. Heute würden sie irren. Heute ist Spanien überall. Und überall, vor allem im Süden Europas, ist es wie in Spanien.

Auch auf der Iberischen Halbinsel vernebelte der Irrglaube, man könne in ganz kurzer Zeit viel Geld mit Spekulation verdienen, den Verstand. Verdrängt wurde, daß das Geld genau so schnell wieder futsch sein kann, schneller noch als eine Immobilienblase platzt.

Die spanische Volkswirtschaft ist die viertgrößte der Eurozone. Dennoch steckt sie tief in der Krise, wie Zypern, Griechenland oder Italien zum Beispiel. Das spanische Budgetdefizit steigt parallel zu den öffentlichen Schulden, und ebenso steigt die Arbeitslosigkeit.

Diese Krise hat auch und vor allem die sogenannten kleinen Leute erfaßt. Besonders jene, die ebenfalls etwas von der riesigen spanischen Paella abhaben wollten und dabei nicht bemerkten, daß andere sie sich schon längst einverleibt hatten, daß vermögende Privatkunden und Unternehmer längst ihr Kapital ins Ausland verschoben hatten, vor allem auf Konten bei deutschen Banken. El acto final: Das Leben verändert sich dramatisch, wird »abgewickelt« wie eine in Konkurs gegangene Firma.

Davon erzählt Rafael Chirbes, einer der international bekanntesten spanischen Gegenwartsautoren (»Der lange Marsch«, »Der Fall von Madrid«, »Alte Freunde«, »Krematorium«) in seinem 2013 in Barcelona erschienenen Wirtschaftskrimi »Am Ufer«, aus dem Spanischen übertragen von Dagmar Ploetz und von der »Darmstädter Jury« im Januar 2014 zum Buch des Monats gewählt (siehe: www.darmstadt.de). Chirbes schreibt schonungslos, doch voller Mitgefühl, von der Verheerung in den Köpfen der Menschen, in der spanischen Klassengesellschaft, in der »sozialen Landschaft«, in der kapitalistischen Wirtschaft. Von den Trümmern und dem Schutt der nicht gebauten Häuser und der verfallenden Projekte entlang der Straßen, der Küsten, der Bahnlinien. Von den verflogenen Träumen. Von dem Sumpf der Korruption.

Er erzählt die Geschichte Estebans, der das Kapital der Familienschreinerei verspekulierte, in die Pleite gezogen von einem flugs untergetauchten Bauunternehmer. Esteban, Sohn eines Sozialisten, hat alles verloren: sein Geld, seine Familie, seinen Betrieb. Nun muß er seine Angestellten entlassen, die teils seit 40 Jahren in der Schreinerei gearbeitet haben. Sie alle stehen am Ufer des Lebens: ohne Vertrauen in Nichts und Niemanden, ohne Selbstwertgefühl und ohne Zukunftsperspektive. Und da ist Spanien plötzlich wieder überall.

»Das Buch ist nicht als Ermutigung gedacht«, sagt Chirbes im Interview mit dem Buchjournal (1/14). »Aber wenn jemand durch den Roman erkennt, was eigentlich mit ihm geschehen ist, dann kann das dazu führen, daß er sein Leben neu ausrichtet.«

Rafael Chirbes: »Am Ufer«, übersetzt von Dagmar Ploetz, Verlag Antje Kunstmann, 430 Seiten, 24,95 €