Um das Amt, das Joachim Gauck so souverän geleitet und das so wesentlich zur Aufarbeitung der SED- und Stasi-Diktatur beigetragen hat, ist heftiger Streit im Gange. Die MfS-Unterlagenbehörde, in der immer noch über 1500 Mitarbeiter tagtäglich schuften und die jährlich mit etwa 100 Millionen Euro aus der Staatsschatulle finanziert wird, verliert an Kundschaft. Die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht hat sich 2013 um 25 Prozent verringert. Der im März 2011 ernannte Behördenchef Roland Jahn wurde wiederholt ob seines recht eigenwilligen Führungsstils kritisiert. Der entscheidende Streitpunkt aber ist die in Aussicht genommene Schließung der Behörde. Ihr Chef weist zwar darauf hin, daß es aus den Akten fortlaufend neue Erkenntnisse und gegenwärtig noch immer jeden Monat 5000 neue Anträge gebe. Angaben darüber, wieviel Antragsteller tatsächlich fündig werden und auf sie betreffende Akten stoßen, macht er jedoch wie auch seine Vorgänger Joachim Gauck und Marianne Birthler nicht.
Der Zeitpunkt, zu dem die Behörde in Berlin-Lichtenberg geschlossen und die Akten an das Bundesarchiv übergeben werden sollen, womit auch Jahn seinen Posten verlieren würde, rückt näher. Verständlicherweise wehrt er sich gegen derartige Absichten und entwickelte den ambitiösen Plan, aus dem Komplex in der Normannenstraße einen »Campus der Demokratie« zu machen.
Das Vorhaben stieß bedauerlicherweise auf wenig Gegenliebe. Selbst unter den bewährten DDR-Aufarbeitern wurden die Stimmen für eine Auflösung der Behörde immer zahlreicher und lauter. Der Vorsitzende des Rates der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Markus Meckel, seit einiger Zeit auch Chef der Kriegsgräberfürsorge, wandte sich öffentlich gegen einen Weiterbetrieb nach 2019, an dessen Ende das Gesetz zur Stasiüberprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes ausläuft. Lautstark plädierte auch der Präsident für politische Bildung, Thomas Krüger, für die Auflösung der Behörde und für eine Überführung der Akten ins Bundesarchiv. Besonders nachdrücklich unterstützte diese Forderung ausgerechnet der wiedergewählte Vorsitzende des Beirates der MfS-Unterlagenbehörde, der Pfarrer Richard Schröder. Ein wenig aus der Reihe tanzte ein anderer Pfarrer, Friedrich Schorlemmer. Er knüpfte die Überführung der MfS-Akten in das Bundesarchiv an die Bedingung, daß auch sämtliche Akten des Bundesnachrichtendienstes aus der Zeit des Kalten Krieges in das Archiv verlagert und offengelegt werden. Das geht zu weit. Wo kämen wir denn hin, wenn BND- und Stasi-Akten gleichbehandelt würden? Schließlich sind BND-Akten, ganz zu schweigen von denen des Bundesverfassungsschutzes, gesammelte Dokumente freiheitlich demokratischer Geheimdienste!
Unter wachsenden Druck geraten, entwarf der kreative Roland Jahn immer neue Pläne zur Rettung seiner Einrichtung. In einem wenig beachteten Interview für die Saarbrücker Zeitung erklärte er, daß er sich eine Schließung seiner Behörde vorstellen könne, allerdings nicht bedingungslos: »Entscheidend ist, daß der Zugang zu den Akten offen bleibt und daß die Aufklärung über die Diktatur weitergeht.« Die Unterlagen des Geheimdienstes müßten auch nach der Verlagerung in das Bundesarchiv nach den Regeln des Stasi-Unterlagengesetzes zugänglich bleiben. Und das bedeute selbstverständlich, daß die meisten seiner Mitarbeiter weiter beschäftigt bleiben und in das Archiv übergehen.
Wahrlich eine Behördenschließung der besonderen Art! Darüber grübelt auch die Merkel-Gabriel-Regierung. Im schwarz-roten Koalitionsvertrag hat sie nach dem Motto »Und wenn du nicht mehr weiter weißt …« eine salomonische Lösung gefunden: »Die Koalition wird eine Expertenkommission einsetzen, die bis zur Mitte der Legislaturperiode Vorschläge erarbeitet, wie und in welcher Form die aus dem Stasi-Unterlagengesetz (StUG) resultierenden Aufgaben des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) fortgeführt werden und wann das geschieht. Die Koalition wird die Fortführung des Pilot-Projektes ›Virtuelle Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Akten‹ sicherstellen.« Und die Koalitionsregierung geht entschlossen ans Werk. Der Gynäkologe und frühere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Wolfgang Böhmer soll den Vorsitz der Kommission übernehmen. Dieser hat dazu seine Bereitschaft erklärt, denn als Mediziner wisse er, »wie man mit Archivalien umgeht«. Das sei ihm »keine fremde Materie«.
Angesichts dieser Lage tritt Jahn nun die Flucht nach vorn an. Nach Gesprächen mit seinen Widersachern in den DDR-Aufarbeitungsinstitutionen übermittelte er der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) einen Bericht, in dem er erkennen ließ, daß er sich der Schließung seiner Einrichtung nicht mehr grundsätzlich widersetzen kann. In den Gesprächen habe man »übereinstimmend festgestellt, daß für die historische und politische Aufarbeitung der SED-Diktatur die Fixierung auf das Thema Staatssicherheit nachteilig ist. Im Sinne einer bestmöglichen Aufarbeitung ist deshalb auch für den Bundesbeauftragten eine grundsätzliche Offenheit in Fragen der zukünftigen institutionellen Trägerschaft für die zur Zeit vom Bundesbeauftragten erfüllten Aufgaben wichtige Voraussetzung für jede Strukturdebatte.« Unabdingbar sei für ihn, daß das in der Behörde erworbene Wissen und die Kompetenz im Umgang mit den Stasi-Akten nicht verloren gehe. Auf gut Deutsch: Jahn stimmt wohl oder übel der vorgesehenen Expertenkommission zu.
Aber wozu eigentlich eine derartige Kommission? Der berühmte Lyriker und »Hampelmann«-Autor, Lutz Rathenow, wie Jahn aus Jena stammend und zufälligerweise ebenfalls im März 2011 zum Stasi-Unterlagenchef avanciert, allerdings nur in Sachsen, wußte schon vor Jahren Rat. Er trat dafür ein, die allgemeinen Stasi-Überprüfungen »in bestimmten Verantwortungsbereichen … bis zum Jahre 2035« fortzusetzen. Und da das nicht ausreicht, forderte er »für die Gesamtheit der Staatssicherheitsakten den Status des Weltdokumentenerbes zu beantragen«. Na bitte! Das wäre doch endlich die lang gesuchte Endlösung! In dem genannten Register, dem UNESCO-Programm »Memory of the World«, 1992 geschaffen, um das dokumentarische Erbe vor Zerstörung und Vergessen zu bewahren, ist Deutschland bisher mit lediglich 17 Einträgen vertreten. Dazu gehören unter anderem die Gutenberg-Bibel, Goethes literarischer Nachlaß, Beethovens 9. Sinfonie, das Nibelungenlied, das Kommunistische Manifest und der erste Band des Kapitals von Karl Marx sowie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Angesichts dieser dokumentarischen Nebensächlichkeiten wäre es tatsächlich höchste Zeit, auch die MfS-Akten in den Rang des Weltdokumentenerbes zu erheben. Die schwarz-rote Koalition und Roland Jahn wären aus dem Schneider, und der Vollständigkeit halber könnten auch die Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesverfassungsschutzes als würdige Bestandteile des »Memory oft the World« für die Öffentlichkeit zugänglich und für die Ewigkeit aufbewahrt werden. Die Expertenkommission ist gut beraten, noch einmal sorgfältig über diesen auswegweisenden Vorschlag Rathenows nachzudenken.