Tschaikowskis »Schwanensee« sah ich zum ersten Mal am 1. Juni 1960 in der Deutschen Staatsoper zum Schwindelkurs. Zu diesem Urbild des klassischen Tanzes schrieb die berühmte russische Primaballerina Galina Ulanowa im Programmheft: »Die neue Ideologie siegte auch im Ballett, dem wohl konservativsten Gebiet der Kunst. ›Alles durch den Menschen, alles für den Menschen!‹ – diese Grundidee des sowjetischen Humanismus, der Glaube an den Menschen, an seine Kraft und Schönheit, an seinen Willen zum Kampf um das Glück wurde zur Devise der zeitgenössischen Ballette.« Zeitgenössisch? Die Berliner Aufführung von Lilo Gruber beruhte auf der Originalchoreographie von Marius Petipa und Lew Iwanow, die zwanzig Jahre nach der Uraufführung (1877) geschaffen wurde – und die bis heute fortwirkt.
Etwas anders beim Afrika-Festival »This Ain‘t Africa« in Hamburg auf Kampnagel: »Swan Lake«, inszeniert von der jungen südafrikanischen Tänzerin Dada Masilo, die in Soweto aufwuchs. Ihre Gruppe, die »Dance Factory« aus Johannesburg, das sind 14 schwarze Tänzerinnen und Tänzer, mit einer weißen Ausnahme. Weiß sind auch die Tutus und Federn auf den Köpfen, die alle tragen. Nur der Prinz – ein Mensch – ist mit einer langen Hose bekleidet. Die Musik zur Einleitung, Tschaikowski, suggeriert: Kurorchester. Was dann geschieht, ist das Gegenteil. Zwar bewegen sich die Tänzer anfangs merkwürdig starr im Stelztanz, verbeugen sich nach hinten, vom Publikum weg. Schuld ist die Weiße (Mutter des Prinzen), die mit einem Dirigierstab versucht, die jungen Schwänlein (Ballettratten) zusammenzuhalten. Und die, in Englisch, einen absurden Vortrag über die Inhalte von Ballettaufführungen hält, die sich alle ähneln. Daß hier alles anders ist, zeigt sich bald. Ein Schwan platscht auf den Boden hin. Die andern treten auf der Stelle, die Arme wie Mühlenflügel herumwedelnd. Genau das wurde der Uraufführung, von Julius Reisinger inszeniert, 1877 in den Russischen Nachrichten vorgeworfen. Hat sich Dada Masilo bewußt darauf bezogen?
Dann toben die Schwäne ausgelassen herum. Die Musik hat längst gewechselt – es klingt nach Offenbach. Warum sollen die Schwäne nicht schreien wie ungezogene Kinder und auch mal niesen? Oder die Wut über Tschaikowski? Er wird in Grund und Boden gestampft, Dramatik durch Komik gebrochen. Und manchmal auch ernst genommen. Das Bühnenbild besteht nur aus Lichtregie. Die Schwänin Odette (Dada Masilo) tanzt, und der Prinz sieht vom Boden aus zu. Ihr Solo ist hinreißend, eine Mischung aus afrikanischer und europäischer Tradition bis hin zu Josephine Baker. Immer im Einklang mit der Musik, auch wenn die mal von Steve Reich, Camille Saint-Saëns oder Arvo Pärt kommt. Sie wackelt mit den Hüften, schwenkt ihr Federröckchen – aber bei diesem Prinzen Siegfried hat sie kein Glück. Es taucht ein männlicher Schwan auf, der den Prinzen für sich gewinnt. Er tanzt – im Gegensatz zu allen andern, die barfüßig sind – mit Ballettschuhen, schwarz und fast unsichtbar. Im Pas de deux vereinen sie sich, ein Höhepunkt. Odette tanzt verzweifelt gegen den Nebenbuhler an, selbst das Gesicht drückt ihre Qualen aus. Sie klammert sich an ihn, verläßt ihn.
Ist er Odile, der schwarze Schwan, der Böse. Der Verführer? Nicht das deutsche Volksmärchen von Musäus – die afrikanische Version, in der alles möglich ist, gilt hier. Aus den weißen Szenen werden schwarze. Zwei Tänzer in schwarzen langen Röcken kommen auf die dunkle Bühne. Die Musik: elegisch. Alle tragen nun schwarz, ununterscheidbar die Geschlechter. Es beginnt ein Tanz der schwarzen Schwäne, Schmerztanz, ein Zu-Boden-Fallen, Sterben? Zwei bleiben übrig, umarmen sich innig. Auch sie stürzen hin. Kein Happy-End. Viel Beifall.