Manöverfrühling
Wenn der Frühling kommt,
ziehen die Soldaten ins Manöver
und die Panzer schießen ins Kraut.
Ganze Kompanien graben sich ein,
jeder Soldat schaufelt sich ein Loch,
ein kleines Grab.
Dann kommen Schwärme von Panzern,
fahren über die Löcher,
drehen kettenrasselnd auf der Stelle,
bis nur noch
ein blutiger Brei übrig bleibt.
Wer wegläuft,
wird standrechtlich erschossen oder
an einem Telegrafenmast aufgehängt.
Aber wenn das Manöver aus ist,
gehen die Soldaten
wieder in die Kaserne.
Wolfgang Bittner
Mussolini – wiederauferstanden
»Die Faschisten sitzen im Kreml«, wußte die
F.A.Z. mitzuteilen. Da der ukrainische »Rechte Sektor« nicht in Moskau einmarschiert ist, muß niemand rätseln, wer da gemeint ist: die Regierenden in Rußland. Das bürgerliche Intelligenzblatt hat einen Kronzeugen für seine Beschreibung der Lage, den Historiker Stefan Plaggenborg, Inhaber des Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Uni Bochum. Professoren der Geisteswissenschaften sind derzeit eigentlich vollbeschäftigt mit der Jagd nach Drittmitteln; aber um im Geschäft zu bleiben, benötigen sie gelegentlich auch eine steile These, die Aufmerksamkeit außerhalb der akademischen Welt verspricht. Plaggenborg hat sie gefunden: Putin ist nicht ein neuer Hitler, der ist schon zu oft wiedergeboren; der russische Staatspräsident ist vielmehr eine Inkarnation des seinerzeit zu Tode gekommenen italienischen Duce. Man müsse nur die Bilder nebeneinander halten, um dies zu erkennen, schreibt Plaggenborg: »Führerschaft und Virilität – Mussolini halb nackt bei der Ernte, Putin halb nackt beim Angeln«. Und die Politik: »Mit dem Schießprügel in der Hand« habe der russische Faschistenchef die Krim an sich gerissen, ein »Vorspiel« weiterer Eroberungslust sei das, und der Kreml wolle zur Zentrale einer neuen »Internationale der Rechten« werden. Nun warten wir darauf, daß Putin das wieder in Gang setzt, was Mussolini einst versuchte: die Annexion Äthiopiens, die Aneignung von Kolonien in Afrika, die Unterwerfung Libyens, die Besetzung Albaniens und Griechenlands. Und daß der Kreml rassistische Gesetze erläßt, die Juden vertreibt. Sonst bekommt Plaggenborg am Ende Zweifel an seiner eigenen These, und die
F.A.Z. steht dumm da.
M. W.
Springers Einsatz
Die Welt, einst das Vorzeigeblatt aus dem Hause Springer, ist längst ein Verlustgeschäft. Irgendwie müssen wir uns doch unentbehrlich machen können, werden die Redakteure sich gesagt haben, und so versucht die Zeitung, andere deutsche Medien bei den Schreckensnachrichten über russische Politik noch zu übertreffen. Der Kreml, so erfährt man da, hat in der Bundesrepublik ein ganzes Netzwerk von Menschen zur Hand, die sich als Rußland-Experten ausgeben, allerlei Gesprächskreise und Stiftungen unterwandern und mitunter sogar in Fernsehsendungen zu Wort kommen. Selbst manche gestandenen deutschen Unternehmer seien vor Verlockungen solcher »Rußland-Versteher« nicht gefeit. Und nicht nur das – die Russische Botschaft in Berlin, auch der Verfassungsschutz habe ja gerade vor ihren Spionagekünsten gewarnt, animiere aufs eifrigste deutsche Regierungsbeamte zur Nachrichtenbeschaffung für Moskau. »Von den Russen geht größte Gefahr aus«, läßt
Die Welt uns wissen. Angesichts dessen dürfen wir vergessen, was über US-amerikanische Ausspäherei bekannt wurde; auch fragen wir nicht mehr, ob es denn in der Politik und in den Medien hierzulande ein Netzwerk zum Zwecke der Verbreitung der Weltsicht aus Washington gibt.
P. S.
Rechtsbruch in Ramstein
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat, jedenfalls dem Anspruch nach, so wie es im Grundgesetz festgelegt ist. (Eine Rechtsnorm, die sich »Verfassung« nennt, haben wir nicht.) Dem Grundgesetz übergeordnet ist das Völkerrecht, besonders die Charta der Vereinten Nationen mit ihrem Gewaltverbot. Jedenfalls theoretisch. Denn tatsächlich übergeordnet sind im Zweifelsfall die sogenannte Staatsraison und die Bündnisverpflichtungen; das betrifft vor allem die Lagerung von Atomwaffen (eigentlich per Vertrag untersagt) und die Benutzung von Militärstützpunkten auf deutschem Boden für Kriegseinsätze, wenn sie ohne UN-Mandat erfolgen.
Ramstein, in der Bundesrepublik gelegen, ist der größte militärische Umschlagplatz in Europa. Von diesem Stützpunkt geht ständig Kriegseinsatz aus. So 1999 gegen Jugoslawien, 2003 gegen den Irak, dann gegen Afghanistan, auch militärische Aktivitäten gegen Libyen. Die Mandatierungen durch die UNO waren teils zweifelhaft, teils nicht vorhanden. Die Bundesrepublik – ein Terrain friedlicher Politik?
Ein Skandal ist der US-amerikanische Einsatz von bewaffneten Kampfdrohnen, durch die schon mehrere Tausend Zivilisten getötet wurden, auch in Ländern mit denen sich die USA nicht im Krieg befinden. Juristen definieren das als »extralegale Tötungen« – Totschlag oder Mord. Ohne Ramstein, wo sich eine US-Befehlsstation (GS4) dafür befindet, wären solche Mordtaten in Jemen, Pakistan und Afrika nicht möglich.
Die Bundesregierung, indem sie diese Verletzungen des Völkerrechts duldet, verstößt selbst gegen das Völkerrecht (siehe dazu auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.6.2005, dokumentiert unter
http://deutscher-friedensrat.de). Nach diesem Urteil sind auch Geheimabsprachen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, ungültig.
Im Falle des Drohneneinsatzes kann das auch Beihilfe zum Mord oder Totschlag sein, zumal wenn Zivilisten getroffen werden. Bei den vielen Kriegseinsätzen von Ramstein aus ist es schwer, festzustellen, welcher von einem UN-Mandat gedeckt ist, ob dieses unzulässig überdehnt wird oder ein UN-Mandat gar nicht vorliegt. Und so genau wollen es unsere Politiker auch gar nicht wissen. Mehrfach äußerten Spitzenpolitiker, daß sie nicht wissen, was in Ramstein geschieht. Norbert Röttgen (CDU) sagte in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in einem Interview im
Deutschlandfunk am 4. April, daß er keine Erkenntnisse über Ramstein habe. Ebenso ging Bundeskanzlerin Merkel auf Tauchstation, indem sie mitteilte, die Drohneneinsätze würden nicht von Deutschland aus befehligt oder gestartet. Das war auch in der Fernsehsendung
Panorama Anfang April nicht behauptet worden. Der Befehl komme aus den USA, gehe dann nach Ramstein, von dort werde die Drohne, die schon im Einsatzgebiet ist, gesteuert. Angela Merkel hat ihre Sprachregelung, die der Vertuschung dient, von US-Präsident Obama entliehen.
Es steht also fest, daß Ramstein für Aktionen mißbraucht wird, die gegen das Völkerrecht verstoßen. Die Bundesregierung müßte dies den USA untersagen und eine umfassende Inspektion von Ramstein durchführen. Falls die USA dazu nicht bereit sind, hat die Bundesregierung das Recht und auch die Pflicht, den Aufenthaltsvertrag mit Washington für US-Militär zu kündigen. Es darf nicht sein, daß Deutschland ständig den Bruch des Völkerrechts zuläßt und es so selber bricht.
Hans-Peter Laubenthal
»Gegen den Strom«
– das ist der Titel einer Festschrift mit 25 Beiträgen von Freunden und Weggefährten für den Theologen, Philosophen und Publizisten Dieter Kraft. Es sind Großbotschaften und Dankesworte zu seinem 65. Geburtstag, die zugleich die Spannweite seines Lebens und die Interessen des Jubilars an »Predigt und Theologie, Geschichte und Philosophie, Recht und Ethik, Kunst und Literatur« widerspiegeln.
Dieter Kraft war an der Humboldt-Universität zu Berlin Schüler und Doktorand des Theologieprofessors Hanfried Müller, Herausgeber der
Weißenseer Blätter, der zu den wenigen Vertretern der Bekennenden Kirche gehörte, die sich zeitlebens an den Erkenntnissen des »Darmstädter Wortes« von 1947 orientierten, zum Beispiel daran: »Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen ...« »Die Gemeinde Jesu lebt von dem Worte Gottes und seiner Verkündigung und nicht von dem Einfluß und den Aufgaben, die die Kirche ... von der Gesellschaft erhält«; dieses Wort von Hanfried Müller galt und gilt auch für seinen Schüler: »Nicht die Frage: Wer oder was nützt der Kirche, nützt mir und meinesgleichen? ist der Maßstab, sondern die andere Frage: Was brauchen die, denen wir bisher vieles schuldig blieben?« Die Worte aber, die die Kernbotschaft der Bibel, beispielsweise in der »Bergpredigt«, aussprechen, sind jene, die uns in den Dienst für die Gerechtigkeit und den Frieden in der Welt stellen. Als hilfreich erweisen sich dazu auch die Erkenntnisse bei Dietrich Bonhoeffer, die der Jubilar in seiner Dissertation »Wir haben geglaubt und erkannt« herausgearbeitet hatte. In der Kirche, wo trotz ihrer Irrwege in der NS-Zeit schon bald wieder eine »strotzende Restauration« (Karl Barth, 1946) Einzug gehalten hatte, wo vom Mehrheitsprotestantismus in den 1950er Jahren die »Remilitarisierung« und der »Militärseelsorgevertrag« freudig begrüßt wurden, und wo, wie in der Gesellschaft insgesamt, seit den 1990er Jahren die Wunderwelt des Neoliberalismus weite Teile der Bevölkerung betört, obwohl sie Ungerechtigkeiten schafft, ist es eine Minderheit nur, die, wie Dieter Kraft und seine Freunde, ankämpft gegen Ausgrenzung von Asylbewerbern, Rassismus, Antisozialismus oder wieder geschürte Russenfurcht. So ist es nicht verwunderlich, daß er in dieser »Wunderwelt« nach 1990 keine Chance mehr hatte, seine Laufbahn an die Universität fortsetzen zu können.
Diese »Wunderwelt« heute: Man kann sie auch als eine Welt der »gesellschaftlichen Erstarrung«, als eine Schneelandschaft, beschreiben, wie es die Kunstwissenschaftlerin Barbara Alms in ihrem Beitrag »Schnee und Eis bei Caspar David Friedrich« tut. Eine Schneelandschaft aus der »trotz des gesellschaftlichen Unglücks ... ein Lächeln« der Hoffnung, eine Utopie, »durch das Eis« hindurchleuchtet.
Gegen den Strom zu rudern, mit einer Utopie von einer besseren, weil gerechten und friedlichen Welt im Herzen und vor Augen, lernen wir aus der Festschrift, und wir werden gleichfalls ermutigt, gegen den Strom zu rudern, gegen den Mainstream unserer Tage. Dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.
Hartwig Hohnsbein
Christian Stappenbeck/Frank-Rainer Schurich (Hg.): »Gegen den Strom – Grüße an Dieter Kraft zum Fünfundsechzigsten von Freunden und Weggefährten«, Verlag Dr. Köster, 199 Seiten, 19,80 €
Demoskopisches
Die Bertelsmann Stiftung, seit längerem eifrig werbend für das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU, hat zu diesem Thema eine Umfrage durchführen lassen. Als deren Ergebnis wurde in den Medien gemeldet, die Mehrheit der Deutschen befürworte ein solches Vertragswerk. Also vorherrschende Zustimmung zum TTIP, auch wenn attac et cetera noch herumkritteln? Studiert man die demoskopischen Details, ergibt sich ein anderes Bild. Die Befragten akzeptieren einen Ausbau der Handelsbeziehungen – aber unter ganz anderen Bedingungen als sie in dem jetzigen, zwischen Washington und Brüssel geheim verhandelten Abkommen vorgesehen sind. Die Majorität der BundesbürgerInnen wünscht, daß eben jene Standards für Umweltschutz, Verbraucher- und Arbeitnehmerrechte sowie Datenschutz beachtet werden, deren Beseitigung das TTIP beabsichtigt. Außerdem wird mehrheitlich verlangt, daß ein derart wichtiger zwischenstaatlicher Vertrag öffentlicher Diskussion und demokratischer Entscheidung ausgesetzt werden soll. Meinungsforschung, so zeigt sich, bringt nicht immer das von den Auftraggebern erhoffte Resultat, mitunter erweist sich das befragte Volk als sperrig.
A. K.
Neoliberale Identität
»Du bist megaklasse!«, ruft Dieter Bohlen seinem Star in der
RTL-Castingshow »Das Supertalent« zu. Der Star des Wettbewerbs vor dem Millionenpublikum: der dreijährige Breakdancer Djamal, der nun die nächste Runde in der Konkurrenz erreicht hat. Kindeswohlgefährdung? Millionenpublikum, Showmaster und Presse finden es jedenfalls megatoll.
Der Wettbewerb beginnt früh, die Konkurrenz ist unerbittlich, und jeder ist selbst für seinen Erfolg oder Mißerfolg verantwortlich. Du bist dein eigener Unternehmer! Mit diesem kategorischen Imperativ wachsen Kinder in die Gesellschaft – was macht er mit und aus ihnen? Dies ist das zentrale Thema des klinischen Psychologen und Psychoanalytikers Verhaeghe. Die Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft (so der Untertitel) ist keineswegs in der menschlichen Natur verankert, sondern Ergebnis der neoliberalen Organisation, die Denken, Fühlen und Handeln kolonisiert. Nicht Gene und Gehirn produzieren die Identität. Vielmehr beeinflußt die kapitalistische Marktförmigkeit im Alltag alles, was unsere Identität ausmacht. In diesem krankmachenden Sozialdarwinismus übernimmt der Markt die Rolle, die früher der Natur zugesprochen wurde.
Im Prozeß von Erziehung und Bildung werden ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale belohnt, um das System aufrechtzuerhalten. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Die idealen Charakteristika eines karrierebewußten Menschen sind genau dieselben, die in einem Handbuch der Psychopathie beschrieben werden. Das Individuum ist der freie Unternehmer seiner selbst, Bildungsziel ist Selbstmanagement und die Erhöhung des Marktwertes. Bereits Kleinkinder sollen gescreent werden, um früh die wettbewerbsfähigen, flexiblen Miniunternehmer für höchste Produktivität zu selektieren.
Die gesellschaftliche Norm ist aktuell Effizienz, das Ziel Gewinn und die Tugend Habgier. Das bestehende System fördert die schlechtesten Seiten des Menschen. Und weil psychische Gesundheit ein Produkt der Gesellschaft ist, nehmen auch die diagnostizierten Störungen zu, wobei die Verschreibung von Psychopharmaka exponentiell wächst – in einer fatalen Wechselwirkung. Denn manches persönliche Problem wird mit einem Krankheits-etikett versehen, um es der Medikation zugänglich zu machen.
Die wachsende Ungleichheit macht die Gesellschaft und die sozialen Beziehungen krank und kaputt. Dabei ist das Gefühl für Gerechtigkeit und Unrecht tief verankert. Affen sind da anscheinend weniger duldsam als Menschen: Läßt man sie dieselbe Aufgabe für denselben Lohn verrichten, läuft alles gut. Wenn aber einer viel besser belohnt wird, verweigert der benachteiligte die Mitarbeit und weist auch die niedrige Belohnung zurück. Eine ungerechte Verteilung wird abgelehnt. Offensichtlich lassen sich Menschen viel mehr an Zumutungen gefallen.
Die Diagnose des Analytikers stimmt nicht zuversichtlich: Das Individuum wird in der neoliberal getrimmten Gesellschaft auf die Funktion des Konsumenten reduziert, es gibt keinen funktionierenden Staat mehr und kein unabhängiges Individuum. Die angeblich helfenden Instanzen in Beratung, Erziehungshilfe und Gesundheitswesen bekämpfen nicht die Ursachen des Elends.
Paul Verhaeghe ist kein Wirtschaftstheoretiker und auch kein Staatsrechtler: Nicht alle seiner analytischen Aussagen zum Charakter des neoliberalen Kapitalismus wirken stimmig, und einige wichtige Aspekte wie Abbau der Demokratie oder die Interessen der Elite an der Verwertbarkeit der Menschen bleiben unberücksichtigt. Er sieht es auch nicht als seine Aufgabe an, Lösungsvorschläge gegen das krankmachende System zu unterbreiten, gegen die individuelle Ohnmacht und die gesellschaftliche Ungleichheit oder gegen die allgegenwärtigen Streßfaktoren des Selbstmanagements. Die Kausalitätskette politökonomische Strukturen – psychosoziale Belastung aufzuzeigen und an zahlreichen Beispielen zu verdeutlichen ist schon Aufklärung im besten Sinne. Und die notwendigen Schlußfolgerungen ergeben sich von selbst.
Georg Rammer
Paul Verhaeghe, Birgit Erdmann, Angela Wicharz-Lindner (Ü.): »Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft«, Verlag Antje Kunstmann, 252 Seiten, 19,95 €
Ein Zauberberg aus Fett
»Fettberg« heißt das Romandebüt von Phyllis Kiehl. Wer sich hier gleich an Thomas Manns »Zauberberg« erinnert fühlt, ist durchaus auf der richtigen Fährte. Auch »Fettberg« entführt seine Leser in die Welt einer abgelegenen Klinik – jedoch nicht in ein Lungensanatorium, sondern ganz zeitgemäß in eine Einrichtung, in der fettleibige Menschen auf »Normalstandard« zusammengeschmolzen werden sollen.
Die personale Erzählstimme, die einer adipösen Autorin namens Ebba Korff gehört, führt schrittweise in die Gebräuche der fastenklinischen Parallelwelt ein, in der alle Patienten einem straffen Zahlenregiment unterliegen: Die Ergebnisse beim Wiegen, die minutiösen Berechnungen der kargen Mahlzeiten (der Kaloriengehalt wird als Serviettenaufdruck stets mitgeliefert) und die genauen Vorgaben für die Tischzeiten (wer mehr als zehn Minuten zu spät zum Essen kommt, geht leer aus) geben den gleichförmigen Tagen Gehalt. Die einzige Größe, die ungezählt in der Bedeutungslosigkeit verbleibt, ist – wie schon bei Thomas Mann – die Zeit. Eine eindeutige Motivation der freiwillig oder aus Gründen sozialen Drucks »Internierten«, den »Fettberg« so schnell wie möglich wieder zu verlassen, sucht der Leser vergebens.
Bewegung in die festgefahrenen Klinikstrukturen kommt erst, als ein neuer Arzt, Doktor Ariel Tense, eine leitende Funktion übernimmt. Die Menschenwürde der Patienten und Patientinnen zählt jetzt noch weniger als zuvor. Das wird selbst der stoischen Ebba zuviel. Als es schließlich zu einem gewaltsamen Eklat kommt, ist für Ebba klar, daß sie die Ungereimtheiten klären muß, die den Klinikalltag bestimmen.
»Fettberg« ist kein psychologischer Roman. Es geht nicht darum, die Sucht nach Nahrung in individuelle oder soziale Erklärungsschablonen zu pressen. Bei Phyllis Kiehl darf das Abweichende uninterpretiert einfach existieren, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Die Figuren bleiben dem Leser oder der Leserin damit eher fern, wodurch eine gewisse Distanz zur Handlung entsteht. Das macht die Lektüre phasenweise etwas sperrig, aber der Stil hat zweifelsohne seinen Vorteil: Die Protagonisten dürfen ihre skurrilen Profile bewahren und jenseits der Eindeutigkeit verbleiben. Ebenso wenig müssen sie – noch ein Anklang an den »Zauberberg« – Entwicklungen oder Fortschritte machen.
Anstatt zu psychologisieren nimmt Phyllis Kiehl in »Fettberg« Machtverhältnisse, die sich in einer Gruppe interagierender Menschen ausgebildet haben, unter die Lupe: Es gibt die Etablierten, die oben bleiben wollen und mit Hilfe einer Schar von Anhängern versuchen, den Status Quo zu wahren. Es gibt die Neuankömmlinge mit eigenen Führungsambitionen, es gibt indifferente Mitläufer und brutale Aggressionsausbrüche. Mit der Beschreibung des Mikrokosmos klinischer Internierung liefert Kiehl zugleich eine Metapher auf die gesamte Gesellschaft.
Anja Trebbin
Phyllis Kiehl: »Fettberg«, Kulturmaschinen, 236 Seiten, 16,90 €
William Shakespeare
Als »Elisabethanisches Zeitalter« oder auch »Goldenes Zeitalter« wird die von 1558 bis 1603 währende Regierungszeit von Elisabeth I. bezeichnet. Es war ein Zeitalter der Blüte für England – sowohl in wirtschaftlicher und politischer Sicht als auch in bezug auf Kunst, Literatur und innere Freiheit.
Ein profunder Kenner dieser Epoche ist der Anglist Ulrich Suerbaum, der schon zahlreiche Publikationen zu diesem Thema, speziell zu William Shakespeare, veröffentlich hat. Der vorliegende Reclam-Band erschien bereits 1989 und erlebt nun zum diesjährigen Shakespeare-Jubiläum (450. Geburtstag) eine willkommene Neuauflage. Ziel des Buches ist eine Gesamtdarstellung des elisabethanischen Zeitalters, die keinen wesentlichen Teilbereich oder Aspekt ausläßt.
Eine Zeittafel bildet den Einstieg. Zunächst gibt der Autor einen historischen Überblick über die Tudorzeit, die 1485 mit der Thronbesteigung Heinrichs VII. begann und mit dem Tod von Königin Elisabeth I. 1603 endete. Fünf Tudormonarchen saßen in dieser Zeitspanne auf dem englischen Thron.
Danach werden verschiedene Bereiche des elisabethanischen Lebens beleuchtet: das Land, die Stadt und der Hof, die »eine hierarchische Stufenleiter« bildeten. Ein spezieller Blick ist dabei dem Dramatiker William Shakespeare gewidmet, der als Modellfall des bürgerlichen Lebens in der elisabethanischen Epoche angesehen wird. Auch das elisabethanische Theater war ein wichtiger Teil des Gesellschaftslebens in London. Theater fand aber nicht nur im Theater statt, die ganze Epoche war »durch und durch theatralisch«. Krönungen, Staatsbegräbnisse, öffentliche Umzüge und Huldigungen waren Ausdruck dieser Selbstdarstellung.
Abschließend betrachtet Suerbaum das elisabethanische Weltbild, das geprägt war vom Übergang der mittelalterlichen Weltanschauung zu den Naturwissenschaften mit ihren modernen Methoden und neuen Ergebnissen. Es beruhte auch auf einem nationalen Selbstgefühl und einer Nationalstaatlichkeit, die das englische Gemeinwesen kaum noch als ein Königreich erscheinen läßt. Die interessante Darstellung, aufgelockert durch einige historische Grafiken und Stiche, wird durch eine umfangreiche Bibliographie und ein Register komplettiert. Suerbaum versteht es, den Leser trotz vieler Fakten und Details zu begeistern und ihm das elisabethanische Zeitalter und seinen Hauptprotagonisten zu erschließen.
Manfred Orlick
Ulrich Suerbaum: »Das elisabethanische Zeitalter«, Verlag Philipp Reclam jun., 584 Seiten, 14,95 €
Zuschrift an die Lokalpresse
Endlich mal wat echt Positivet, und zwar aus‘m Berliner Speckjürtel! Nach den ständijen Katastrophennachrichten über den technischen Zustand von det BER-Traumata und den Crashs von olle Mehdorn erst mit eene Leitplanke und denn mit eene Potsdamer Konferenztür hat die Stadt Oranienburch der Welt endlich mal jezeicht, wat Ritze is! Laut
Neue Oranienburger Zeitung vom 15. April hat sich det Ordnungsamt von die Jemeinde wat janz Irret einfall‘n lassen: Die bisher als »Knöllchen« jefürchteten Strafzettel der uniformierten Streifenjänger werden durch bürjernahe »Scheibenwischerverwarnungen« ersetzt. Wie die Zeitung berichtet, wurde dazu eene neue »Hard- und Software« einjeführt. Die »Scheibenwischerverwarnungen« werden »mittels Smartphone und integriertem Thermodrucker direkt am Fahrzeug hinterlassen, bestehen aus beschichtetem Thermopapier und halten Wind und Feuchtigkeit stand«. Na bitte, jeht doch! Und jerade Wind und Feuchtichkeit und natürlich der Fluchlärm sind doch der Knackpunkt bei die ständije Verschiebung von die BER-Eröffnung. Mit Wind und Krach und Rejen konnte ja keener rechnen, da hat sojar der Überfliejer Mehdorn schwarz jeseh‘n! Und nu frare ick mal an, ob man nich eene Forschungsgruppe bilden könnte, die ausbaldowert, wie man die Oranienburjer Erfahrungen auf die Schönefelder Sicherheitstechnik überträcht? Könnte nich mal der Norden dem Süden unter die schlaffen Arme jreifen? – Arminius Aschfahl (27), Kybernetiker, 16540 Hohen Neuendorf
Wolfgang Helfritsch
Glückwunsch für Kusche
Das Wort »Kohl« hat viele Haupt- und Nebenbedeutungen, man muß nicht mal an einen umfangreichen Bundeskanzler denken. Unter dem Titel »Kohl« hatte Lothar Kusche diversen gedruckten Blödsinn, den man auch »Blätterteig« nennen kann, gesammelt und mit winzigen Kommentaren als kleine, feine Glossen unters lesende Volk gestreut: Viele Jahrzehnte lang tat er dies meist wöchentlich in der
Weltbühne, nach deren Ableben 1993 noch viele Jahre lang hier in
Ossietzky. Daß der »Kohl«-Verfasser sich »Felix Mantel« nannte, forderte heraus. So versuchte ein »Fabian Ärmel« in einem anderen Druckprodukt Ähnliches und titelte dieses »Wirsing«. Eine Mantel-Hommage?
Lothar, darauf angesprochen, lächelte feinsinnig, sprach »Ärmel« in der ihm eigenen Betonung und meinte: »Wirsing – dit saachtn Berliner fürn Kopp, ne andre Bedeutung kennick nich.« Ein Lothar Kusche war und ist nämlich nicht zu kopieren. Obwohl er selber sich überall umtat, parodierte, glossierte, rezensierte und auch lobhudelte, wenn ihm danach war.
Wir haben ja leider eine geteilte Wahrnehmung des deutschen Literaturlebens zwischen 1950 und 1990, auf manchem Felde, wie dem des Humors, bis heute. So ist Kusche für leselustige, also bildungsnahe Menschen des Ostens der bedeutende Feuilletonist und Satiriker, der das kleinere Deutschland mit feinem Humor beschrieb und sich selber dabei nie zu wichtig nahm, eine Eigenschaft, die die »Männer der Feder« (manchmal auch Frauen) sehr selten verkörpern.
Kusche, der nie studiert, aber ungeheuer viel gelesen hat, weiß folglich auch um die Tücken der Sprache. Wenn er einen falschen Fall benutzte, tat er das mit Bedacht und Hintersinn. Das schützte ihn leider nicht vor einem bösen Fall in diesem Januar, seither sitzt er im Rollstuhl und kann auch jenen »Kohl« uns nicht mehr bieten, den wir, neben vielem anderen, immer gern genossen haben.
Am 2. Mai wird Lothar Kusche, der große, geistreiche Mensch von eher kleinem Wuchs 85. Einen herzlichen Glückwunsch, eine bessere Gesundheit und künftig keine Kohllateralschäden mehr – einen solchen Kalauer würde Lothar auch als Kohlauer natürlich nie machen.
Matthias Biskupek