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Die »getürkte« Kandidatur  (Murat Çakır)

Ende April besuchten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU-Ratspräsident Donald Tusk ein Flüchtlingslager nahe der türkisch-syrischen Grenze. Was Merkel und Tusk bei diesem Besuch sagten, mag vielleicht den diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet sein, aber ob es der Wahrheit entspricht, ist zweifelhaft. Merkel lobte »die Anstrengungen der Türkei in der Flüchtlingskrise« in hohen Tönen und bedankte sich für »den allergrößten Beitrag [zur] Bewältigung der Krise«, und auch Tusk würdigte »die Leistungen der türkischen Regierung«. Die Türkei sei »heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten«. Und keiner habe daher »das Recht, belehrend auf die Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält«. Schützenhilfe erhielten sie einen Tag später von Bundespräsident Joachim Gauck: Es müsse »auch die Tatsache betrachtet werden, dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben gefunden haben«.

Die Türkei »das beste Beispiel für die Welt«? Doch lassen wir die Unschuldsvermutung auch für unsere hohen Politiker gelten. Es mag ja sein, dass Merkel, Tusk und Gauck uninformiert sind. Und mit einem haben sie auch recht: Die Türkei ist eines der größten Aufnahmeländer. Zahlenmäßig, was aber nichts über die tatsächliche Situation der Schutzsuchenden aussagt. Daher ist es sinnvoll, kurz Fakten anzuschauen:
Laut einem Bericht der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR vom September 2015 waren in der Türkei insgesamt 1.983.999 syrische Flüchtlinge registriert, 259.277 von ihnen sind in Flüchtlingslagern untergebracht. 54 Prozent sind Kinder, darunter 663.138 im Schulalter. Knapp 270.000 können eine Schule aufsuchen. Kinderarbeit ist weit verbreitet. Bettelnde syrische Kinder und Frauen gehören zum Straßenbild. Die Zwangsprostitution syrischer Frauen oder die Verheiratung minderjähriger syrischer Mädchen sind inzwischen so häufig, dass sie für die gängigen türkischen Medien keinen Nachrichtenwert mehr haben. In den größeren Städten wie Istanbul, Urfa oder in Antep leben syrische Flüchtlinge zusammengepfercht mit mehreren Familien in abbruchreifen Ruinen. Arbeit finden sie nur im informellen Sektor: Für knapp 100 Euro im Monat müssen sie sechs Tage in der Woche 12 bis 14 Stunden am Tag arbeiten. In den Grenzgebieten zu Syrien stehen sie unter dem Druck dschihadistischer Gruppen. Rekrutierungsversuche dschihadistischer Terrorbanden werden von der Türkei nicht verhindert und Morde, wie zuletzt an einem syrischen Journalisten, nicht ernsthaft verfolgt.

Die Reaktion der Bevölkerung
Die beschriebene Situation, der Druck auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie die Versuche der von der islamistisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gestellten Regierung, in bestimmten Regionen durch Ansiedlung sunnitischer Flüchtlinge die demographische Lage zu verändern (Kurden zu verdrängen), führen in der einheimischen Bevölkerung teilweise zu fremdenfeindlichen Reaktionen. Alewiten wehren sich in Maraş gegen ein großes Flüchtlingscamp; auch in Dikili und anderen ägäischen Orten protestieren Einheimische gegen die Unterbringungspolitik der Regierung. Presseberichten zufolge werden bettelnde oder stehlende syrische Kinder auf offener Straße zusammengeschlagen, und der Unmut wächst.
Beträchtliche Teile der Bevölkerung machen die Flüchtlingspolitik für ökonomische und soziale Verschlechterungen verantwortlich, etwa für sinkende Löhne oder Mietsteigerungen: In Urfa behaupten das einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge 86, in Antep 84, in Hatay 78 Prozent und in Kilis 54 Prozent. In Gebieten mit hohem Flüchtlingsanteil stiegen Mieten und Nahrungsmittelpreise auf mehr als das Doppelte. Dennoch: 53 Prozent der Bevölkerung halten Flüchtlingshilfe für unabdingbar. Allerdings sprechen sich 81,7 Prozent gegen die Vergabe der türkischen Staatsangehörigkeit an syrische Flüchtlinge aus. Das hängt zum größten Teil mit dem demographischen Wandel zusammen: So sind in Kilis, wo bis 2011 nur ein Prozent der Einwohner arabischer Herkunft war, inzwischen 59 Prozent der Bevölkerung arabisch. In Hatay, wo traditionell Alewiten die Mehrheit stellten, ist die Mehrheit der Bevölkerung nun sunnitisch.

Der rechtliche Status der Flüchtlinge
Schutzsuchende, die von der Türkei keinen Flüchtlingsstatus bekommen, haben in der Türkei grundsätzlich keine Rechte. Obwohl die Europäische Union und die türkische Regierung immer wieder behaupten, dass syrische Flüchtlinge unter einen sogenannten »vorläufigen Schutz« genommen werden und ein Arbeitsrecht erhalten sollen, haben sie de facto keine Möglichkeit, dieses Recht in Anspruch zu nehmen.


Das türkische Ausländer- und Internationale Schutzgesetz behindert die Erlangung eines dauerhaften Aufenthaltsstatus. Zwar hat die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 unterzeichnet, sie ist aber der einzige Unterzeichnerstaat, der sowohl die Konvention als auch das Protokoll von 1967 geographisch auf Europa einschränkt, das heißt den Flüchtlingsstatus nur an Personen aus europäischen Staaten vergibt. Insofern ist die Türkei ein Staat, in dem Flüchtlinge aus nichteuropäischen Staaten keinen adäquaten Aufenthaltsstatus erhalten, nur vorübergehend geduldet werden und ihre grundlegenden Menschenrechte deshalb ständig bedroht sind. In der Türkei haben sie keinen gesicherten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen. Das ist der Hauptgrund, warum beispielsweise die Flüchtlinge im griechischen Idomeni sich so vehement gegen die Rückführung in die Türkei wehren.


Für die Flüchtlinge ist die Türkei nur ein Transitland, aber mitnichten ein »sicherer Drittstaat«. Um es mit der jüngsten Kritik des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu sagen: Es ist mindestens »der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat in der Türkei nicht umfassend und in jedem Einzelfall gewährleistet sein könnten« (s. den Beitrag von Werner Ruf in diesem Heft). Es ist ein Skandal, dass die EU und besonders die Bundesregierung ohne ernsthafte Überprüfung lapidar der Türkei unterstellen, sie sei ein sicherer Drittstaat, gewährleiste den Flüchtlingen Rechte und halte das Verbot der Zurückweisung ein. Doch diese Ignoranz hat ihre Gründe – sie finden sich in der Militarisierung der EU-Außenpolitik und dem Primat der Wahrung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen.

Flüchtlinge als Faustpfand strategischer Interessen
Sowohl das AKP-Regime als auch die EU instrumentalisieren Flüchtlinge als Faustpfand für ihre jeweiligen strategischen Interessen. Die EU hat (scheinbar) ein Problem weniger, und die AKP sichert sich die EU-Unterstützung für die Installation eines autoritären Regimes. Europäische Politiker*innen schweigen über die undemokratische Regierungspraxis, den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, die Menschenrechtsverletzungen, die Behinderung der Presse- und Meinungsfreiheit, die Inhaftierung von Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und gewählten Mandatsträger*innen, die illegalen Hinrichtungen von Zivilist*innen und vieles andere mehr. Zudem unterstützt Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer Forderung nach der Einrichtung von Flugverbotszonen in Syrien offen die völkerrechtswidrige und aggressive Syrienpolitik der Türkei.


Die AKP-Regierung gehört zu den Fluchtverursachern in der Region und ist somit ein Teil des Problems, nicht der Lösung. Der Skandalpakt und die »getürkte« EU-Kandidatur haben nichts mit Flüchtlingsschutz zu tun. Es ist nichts anderes als ein staatlich organisierter Menschenhandel. Aber was soll’s, es ist wie vor 100 Jahren: Die Bundeskanzlerin hält es wie Reichskanzler von Bethmann Hollweg: Es gilt »die Türkei an unserer Seite zu halten ...« Wahrlich: das nennt man Kontinuität!

Murat Çakır ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und Publizist.