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Titel1016

Flüchtlinge: Ab in »Sichere Drittstaaten«!  (Werner Ruf)

Geradezu reflexhaft reagiert die politische Klasse (mit wenigen Ausnahmen) auf die Forderungen von AfD über Pegida bis NPD: »Wir« müssen den »Flüchtlingsstrom« stoppen, »Unser« Gemeinwesen wird »überflutet«, ja die deutsche »Identität« ist in Gefahr. Schon die in diesem Diskurs verwendeten Metaphern verweisen auf Naturkatastrophen. Aber statt angesichts der »Dammbrüche« an unseren Grenzen den Notstand auszurufen, sind wir ja ein Rechtsstaat und halten uns konsequent an geltendes Recht. Und wir bleiben human: Wer könnte etwas dagegen haben, »Illegale« oder Menschen »ohne Bleiberecht« (wie kommt das zustande?) irgendwohin zu befördern, wo sie »sicher« sind – was im Allgemeinverständnis suggeriert, dass ihnen dort keine Gefahr für Leib und Leben droht?

Das scheint auf den ersten Blick einfach und auch logisch zu sein. Und es ist auch überaus praktisch, denn »wir« haben die Definitionsmacht. Also definieren wir eben, wer oder was ein »sicherer Drittstaat« ist. Seit dem Asylkompromiss von 1993 gelten als »sichere Drittstaaten« sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz. Doch so einfach sind die Dinge nicht: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte Ungarn schon 2012 diesen Status abgesprochen. Da erscheint es vollmundig, wenn in der deutschen Debatte über die wachsende Zahl von Flüchtlingen prominente Politikerinnen und Politiker die »Lösung« des Problems darin sehen, dass einfach ein paar mehr »sichere Drittstaaten« geschaffen werden, und schwupp: Die Menschen können dann umgehend dorthin abgeschoben werden. Unser der Humanität verpflichtetes Gewissen kann ruhig bleiben, denn dort sind sie ja »sicher«.


Dabei sollte man meinen, dass prominente Politiker, bevor sie populistische »Lösungen« in die Welt posaunen, sich ein wenig kundig machen. So könnten sie vielleicht einen Jahresbericht von Amnesty International zur Hand nehmen, um zu erfahren, wie denn die rechtsstaatlichen Verhältnisse in Ländern wie Marokko, Algerien, aber auch Tunesien aussehen. Sie könnten auch zur Kenntnis nehmen, dass unser seit 1993 ohnehin eingeschränktes Asylrecht die Abschiebung verbietet, wenn den Asylbewerbern in ihren Heimatländern Tod oder Folter droht. Die hohe Zahl von Ausreisepflichtigen, die aber nicht abgeschoben werden können, dürfte auf diese Regelung zurückzuführen sein, denn genau das ist es, was die Menschen in den flugs zu »sicheren Drittländern« erklärten Staaten zu erwarten haben.


So kamen im algerischen Bürgerkrieg, der noch immer nicht zu Ende ist, bisher mehr als 200.000 Menschen ums Leben; zwischen 10.000 und 30.000 Menschen sind »verschwunden« – das heißt: Sie haben die Folter nicht überlebt und wurden irgendwo verscharrt, 1,5 Millionen Menschen sind im Lande selbst auf der Flucht. Hinsichtlich der Zustände in marokkanischen Gefängnissen kann jeder, der will, sich der grauenhaften Verhältnisse vergewissern. Rechtsstaatlichkeit? Man verfolge doch (nur beispielsweise) die Unterdrückung, Verfolgung, Inhaftierung, Folter und militärgerichtliche Aburteilung von Bürgerrechtlern aus der seit 40 Jahren völkerrechtswidrig von Marokko besetzten, ehemals spanischen Kolonie Westsahara.


Diese Staaten zu »sicheren Drittstaaten« zu erklären, bedient (und stärkt) einerseits den wachsenden Rassismus, andrerseits sorgt es dafür, dass über die Fluchtursachen gar nicht mehr nachgedacht werden muss. Dabei wissen wir seit den Explosionen des Arabischen Frühlings, die in Tunesien im Sturz der Diktatur endeten, in Algerien mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurden, in Marokko durch eine Kombination aus Repression und politischen Versprechungen (und Subventionierung der Grundnahrungsmittel) zum Stillstand gebracht wurden: Die Revolten hatten soziale Ursachen. Es ist ein Irrglaube, dass repressive Maßnahmen soziale Probleme lösen könnten. Genau daran sind schon Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten gescheitert – und ob die »Stabilität« der repressiven marokkanischen Monarchie oder der algerischen Militärdiktatur von Dauer sein wird, ist zweifelhaft. Ihre bereits erfolgte (und von der EU mitfinanzierte) Einbeziehung in den Kampf gegen die Flüchtlinge (Stichwort: Ceuta) im Rahmen von Frontex zeigen deutlich, dass selbst unsere diktatorischen Partner die Flucht vor allem der verelendeten, perspektivlosen Jugendlichen nicht verhindern können.


In einem unveröffentlichten Gutachten für die Linksfraktion hat nun im April 2016 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt, dass die ursprüngliche Absicht der NATO, in der Ägäis aufgegriffene Flüchtlinge kollektiv in die Türkei zurückzubringen, gegen das EU-Recht verstößt. Laut Presseberichten analysierte er das Vorhaben unter dem Gesichtspunkt der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Grundrechtecharta und mehrerer EU-Richtlinien und kommt zu dem Schluss, dass zumindest bei Flüchtlingen, die innerhalb griechischer Hoheitsgewässer aufgegriffen werden, eine direkte Überstellung in die Türkei mit den Grundsätzen des gemeinsamen europäischen Asylsystems nicht vereinbar sei. Die junge Welt zitiert zudem aus dem Gutachten, das von den Bundestagswissenschaftlern als Verschlusssache eingestuft worden ist: »Aufgrund von Berichten verschiedener Nichtregierungsorganisationen sowie von entsprechenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist der Verdacht jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat in der Türkei nicht umfassend in jedem Einzelfall gewährleistet sein könnten.«


Nicht Ausgrenzung, Kriminalisierung und Deportation sind die Lösung für den Umgang mit Schutzsuchenden: Der beliebige, opportunistische Umgang mit dem Recht beschädigt das Fundament unserer eigenen Grundwerte wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Wenn sie Gültigkeit haben sollen, müssen sie für alle Menschen gelten. Zugleich muss der Verelendungsprozess in den Entwicklungsländern aufgehalten und umgekehrt werden, auch wenn dies der neuen Religion des Neoliberalismus zuwiderläuft. Für die Menschen in Nordafrika, Nahost und Afrika südlich der Sahara muss es eine andere Perspektive geschaffen werden als die, entweder im Mittelmeer zu ertrinken oder sich der dschihadistischen Internationale anzuschließen, die nicht nur das Paradies im Jenseits verspricht, sondern der perspektivlosen Jugend aus diesen Ländern Ruhm, die Verwirklichung von Männlichkeitsfantasien und sogar ein gutes materielles Auskommen im Diesseits verschafft.