Die türkische Regierung führt Krieg gegen die Kurden im eigenen Land – doch Europa schweigt, weil das Erdoğan-Regime als Grenzwächter der EU gegen Flüchtlinge gebraucht wird. In den meisten deutschen Zeitungen findet das derzeitige blutige Vorgehen gegen die Bevölkerung kurdischer Städte kaum Erwähnung und wenn doch, dann mit dem Hinweis, die türkischen Sicherheitskräfte gingen dort gegen »PKK-Terroristen« vor. Diese Haltung nimmt auch die Bundesregierung auf parlamentarische Nachfragen der Linksfraktion ein. Die Arbeiterpartei Kurdistans PKK habe den Krieg in die Städte getragen und setze dafür auch zahlreiche junge Menschen ein, heißt es aus der Bundesregierung. Suggeriert wird so, dass sich in den kurdischen Städten schwerbewaffnete Guerillakämpfer verschanzt hätten, gegen die nun Krieg geführt werde. Die Realität ist freilich eine andere.
Nach dem Wahlerfolg der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Juni letzten Jahres, der die regierende islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die absolute Mehrheit im Parlament kostete, hatte die Regierung die eh schon ins Stocken geratenen Friedensgespräche mit der PKK für beendet erklärt und neue Luftangriffe auf PKK-Camps im Nordirak fliegen lassen. Zugleich begannen Strafexpeditionen von Polizeispezialeinheiten gegen Hochburgen der HDP, Dutzende Zivilisten wurden dabei ermordet. Die Guerilla reagierte mit blutigen Vergeltungsaktionen gegen Militär und Polizei. Diese von Erdoğan betriebene »Strategie der Spannung« ging auf. In einem nationalistisch aufgeladenen Klima von Krieg und Gewalt gelang es der AKP bei Neuwahlen im November, die für eine Fortsetzung ihrer Alleinregierung notwendigen 49 Prozent der Stimmen zu erpressen. Wer unter den Wählern gehofft hatte, nun würde die so gestärkte AKP erneut eine Friedensinitiative starten, wurde bitter enttäuscht. Denn ihre neue Stärke nutzte die Regierungspartei stattdessen für eine Intensivierung des Krieges gegen die Kurden, der sich nun schwerpunktmäßig gegen die kurdischen Städte richtete. Erneut wurden Ausgangssperren gegen Städte wie Cizre, Silopi, Nusaybin und das Altstadtviertel Sur von Diyarbakır verhängt, jetzt allerdings wochen- und sogar monatelang.
Armee und Polizei massakrierten Anfang Februar über 150 Menschen, mehrheitlich Zivilisten, die wochenlang in Kellern unter ihren zerstörten Häusern in der Stadt Cizre ausgeharrt hatten. Unter den Toten sind auch der Volksratsvorsitzende von Cizre, Mehmet Tunc, und die Politikerin der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Deriya Koc, die über ihre Handys bis zuletzt über die Situation der Eingeschlossenen informiert und um Hilfe gebeten hatten. Doch die Armee ließ keine Krankenwagen durch, sondern griff am Ende die Keller mit Brandbomben an.
Erstmals seit den 1990er Jahren ist nicht nur die Polizei, sondern auch wieder die Armee im städtischen Einsatz. Wohnviertel werden durch Panzer und Artillerie und selbst aus Kampfhubschraubern beschossen. Weite Teile der als UNESCO-Weltkulturerbe eingestuften Altstadt von Diyarbakır liegen nach einer über dreimonatigen Ausgangssperre in Ruinen (siehe Beitrag von Thomas Schmidt). Rund eine halbe Million Kurden aus den belagerten und attackierten Städten und Stadtvierteln sind derzeit auf der Flucht, viele sind bei Freunden oder Verwandten untergekommen. Soweit sie nach dem Ende von Ausgangssperren zurückkehren, finden sie ihre Häuser geplündert und gebrandschatzt und ihre Haustiere – Schafe, Hühner oder Bienen – als wichtigem Teil ihrer Existenzgrundlage getötet vor. Die Regierung hat mittlerweile nicht nur per Dekret die Enteignung nahezu des gesamten Altstadtgebietes Diyarbakır-Sur, in dem 50.000 Menschen lebten, beschlossen, auch ganze Stadtviertel in anderen kurdischen Städten wie Cizre und Silopi wurden kurzerhand enteignet.
Die staatlichen Angriffe zielen auf die Zerschlagung der in den letzten Jahren von der kurdischen Bewegung geschaffenen basisdemokratischen Selbstverwaltungsstrukturen aus Stadtviertel- und Volksräten. Zwar hat sich die um die PKK gebildete kurdische Befreiungsbewegung längst vom Ziel eines eigenen kurdischen Nationalstaates verabschiedet, doch schon der Wunsch nach Selbstverwaltung auf kommunaler und Provinzebene gilt aus Sicht der türkischen Nationalisten als Separatismus. So soll führenden HDP-Politikern einschließlich der Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ nach dem Willen der Regierung die parlamentarische Immunität entzogen werden, weil sie sich Ende Dezember auf einer Konferenz in Diyarbakır hinter die Forderung nach Autonomierechten für die kurdischen Landesteile gestellt hatten. Als »Verbrechen« gilt auch das in HDP-regierten Kommunen praktizierte Regierungsmodell. An die Stelle eines einzelnen Bürgermeisters tritt dort eine Doppelspitze aus jeweils einem Mann und einer Frau.
Dutzende Bürgermeister und Stadträte der HDP wurden in den letzten Monaten verhaftet oder auf Weisung des Staates ihres Postens enthoben, weil sie sich für kommunale Selbstverwaltung ihrer Städte ausgesprochen hatten. In Reaktion auf solche Verhaftungen errichteten Jugendliche in Städten wie Cizre, Nusaybin und Diyarbakır-Sur Barrikaden und Gräben, die ein Eindringen der staatlichen Kräfte in die selbstverwalteten Viertel verhindern sollten. Wehrten sich gegen die Angriffe der Polizei anfangs nur die mit selbstgebauten Waffen ausgerüsteten Mitglieder einer PKK-Jugendorganisation, so wurde dieser Widerstand bei zunehmender Dauer und Heftigkeit der staatlichen Attacken professioneller. Inzwischen haben sich sogenannte Zivilverteidigungseinheiten YPS gebildet, die auch über eine eigene Fraueneinheit verfügen (siehe auch Beitrag von Anja Flach). Mittlerweile mit Sturmgewehren und Sprengkörpern bewaffnet, leisten diese aus Anwohnern und Mitgliedern der städtischen PKK-Jugendorganisation gebildeten YPS erbitterten Widerstand. Gegenüber Armee und Polizei erklärten sie: »Je mehr ihr IS werdet, desto mehr werden wir Kobanê« – ein Verweis auf die syrisch-kurdische Stadt, in der der von der Türkei unterstützten Terrororganisation Islamischer Staat Anfang letzten Jahres eine entscheidende Niederlage beigebracht wurde.
In der Westtürkei, wo noch vor drei Jahren Millionen Menschen bei den Gezi-Park-Protesten gegen Erdoğan auf die Straße gingen, gibt es derzeit kaum Solidarität mit den Kurden. Viele Liberale und Linke sind nach Anschlägen auf Sozialisten und auf die Friedensbewegung in Suruç und Ankara eingeschüchtert – es gab über 130 Tote und Massenverhaftungen von Oppositionellen. Eine Ausnahme bildet der Friedensappell der Akademiker vom Januar. Viele der Wissenschaftler sehen sich nun als Terrorunterstützer verleumdet und mit Anzeigen überzogen. Keine guten Vorzeichen für die Zukunft der Türkei. Die Gefahr eines ethnischen Bürgerkrieges wächst beständig.
Erdoğan und die AKP-Regierung sehen sich derzeit durch das Schweigen der EU und der Bundesregierung vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise in ihrem Vorgehen ermutigt. Mit bemerkenswerter Offenheit erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maizière Anfang Februar etwas holprig gegenüber der Sendung »Monitor«, man solle aufhören, die Türkei von morgens bis abends zu kritisieren: »Wenn wir von ihr etwas wollen, wie dass sie die illegale Migration unterbindet, da muss man auch Verständnis dafür haben, dass es dann im Wege des Interessensausgleichs auch Gegenleistungen gibt.« Dafür, dass die Türkei im EU-Auftrag die Rechte der Flüchtlinge beschneidet, bekommt sie grünes Licht, Krieg gegen die Kurden zu führen. Verweigerte Menschenrechte werden gegen verweigerte Menschenrechte verrechnet, so der Deal.