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Titel1016

Dialog statt Kriminalisierung  (Rolf Gössner)

Nach Abschluss des umstrittenen Flüchtlingsdeals mit der Türkei sind EU und Bundesregierung zurückhaltend geworden, wenn es um Kritik an der katastrophalen Menschenrechtslage in der Türkei geht. Aber dieses (Nicht-)Verhalten ist auch wieder konsequent, hat doch die EU mit dem Deal, mit dem sie sich Flüchtlinge »vom Hals halten« will, ihre sonst (auch gegenüber der Türkei) so hoch gehaltenen »europäischen Werte« verraten, sich selbst kompromittiert und erpressbar gemacht.


Angesichts des Kriegs der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung, angesichts eines menschenrechtlich inakzeptablen Deals, angesichts auch der neuen Rolle der Kurden als stabilisierender Machtfaktor im Nahen und Mittleren Osten und im Abwehrkampf gegen den IS-Terror kommt der EU und der Bundesrepublik eine gesteigerte Verantwortung zur Aussöhnung und Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zu. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, bedarf es eines radikalen Wandels der europäischen Türkei- und Kurdenpolitik, bedarf es politischer Initiativen und eines offenen Dialogs mit der kurdischen Seite – und zwar auch in Europa und in Deutschland, statt wie bisher, solche Initiativen und Dialoge per Kriminalisierung und Ausgrenzung zu blockieren.


Für diese Blockade sind im Wesentlichen drei Relikte verantwortlich: das PKK-Verbot, die Terroristenprozesse gegen Kurden und die EU-Terrorliste – ein kontraproduktives Repressionsinstrumentarium, das jeden Kurswechsel behindert und das die hier lebende kurdische Bevölkerung, ihre Grundrechtssituation und ihre Integration schwer beeinträchtigt:
Erstens: Das vor 23 Jahren von der Bundesregierung erlassene Betätigungsverbot für die kurdische Arbeiterpartei PKK und andere kurdische Organisationen hat mittlerweile viel Unheil gestiftet. Trotz des Wandels, den die straff organisierte Kaderpartei PKK in Richtung einer friedlich-demokratischen Lösung des Konflikts vollzog, besteht das Verbot bis heute fort. Es hat Zigtausende politisch aktiver Kurden diskriminiert und kriminalisiert, sie zu potentiellen Gewalttätern und gefährlichen »Terroristen« gestempelt und damit zu innenpolitischen Feinden erklärt.


Die Kriminalisierung hatte zeitweise eine dramatische Dimension erreicht: Für Kurden, die aus der Türkei vor Verfolgung und Folter geflohen waren, war es besonders in den 1990er Jahren fast unmöglich, hierzulande von ihren elementaren Menschenrechten ohne Angst Gebrauch zu machen. Durch das Betätigungsverbot werden die Grundrechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit massiv beschränkt. Demonstrationsverbote und Razzien, Durchsuchungen von Privatwohnungen, Vereinen, Druckereien und Redaktionen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen waren und sind immer wieder an der Tagesordnung genauso wie geheimdienstliche Ausforschung und Infiltration durch Staats- und Verfassungsschutz.


Auf Grundlage des PKK-Verbots werden auch Einbürgerungen abgelehnt, Staatsbürgerschaften wieder aberkannt, Aufenthaltserlaubnisse nicht verlängert, Asylanerkennungen widerrufen oder Ausweisungen verfügt – etwa mit der Begründung, die Betroffenen trügen mit der Teilnahme an kurdischen Demonstrationen und Veranstaltungen »zu einer Stärkung des latenten Gefahrenpotentials der PKK bei«.
Zweitens: Strafermittlungsverfahren gegen Tausende politisch aktiver Kurden im mutmaßlichen Umfeld der PKK wurden eingeleitet und werden immer noch geführt ‒ inzwischen nach dem 2002 eingeführten § 129b StGB (terroristische Vereinigung im Ausland). So sind zahlreiche Kurden nicht etwa allein wegen gewalttätiger Aktionen verurteilt worden, sondern auch wegen friedlicher Proteste, rein verbaler Äußerungen, also gewaltfreier politischer Betätigung.


Mit § 129b StGB wurde die Strafbarkeit der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung einer »Terroristischen Vereinigung« (§ 129a) auf Gruppen im Ausland ausgedehnt. Seitdem können kurdische Aktivisten als mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer für die politische und militärische Betätigung der PKK in der Türkei mitverantwortlich gemacht und strafrechtlich verfolgt werden – selbst wenn sie sich hierzulande gewaltfrei und legal verhalten. Falls es sich – wie im Fall der PKK in der Türkei – um Gruppen außerhalb der EU handelt, ist eine Strafverfolgung von der Ermächtigung des Bundesjustizministeriums abhängig; entgegen dem Gewaltenteilungsprinzip wird die Exekutive damit zum Richter über politische Bewegungen und Organisationen gemacht.


Deutschen Botschaften, Geheimdiensten und der Staatsanwaltschaft des Bundes fiel damit die schwierige Aufgabe zu, verdächtige Vereinigungen in aller Welt einzuschätzen: Handelt es sich um eine terroristische Vereinigung oder um legitime Formen des Widerstands gegen Diktaturen oder um eine Befreiungsbewegung? Ein schwieriges Unterfangen, ist doch der Terrorist des einen der Freiheitskämpfer des anderen und umgekehrt – was sich erfahrungsgemäß rasch ändern kann. Die Strafverfolgung hängt also erheblich von außenpolitischen, militärischen und ökonomischen Opportunitätsaspekten und geopolitischen Interessen ab.


Wie kritisch auch immer man berechtigterweise zur PKK und ihren früheren oder neuerlichen Gewalttaten in der Türkei steht: Mit solchen Verboten und politisch motivierten Strafverfahren hierzulande werden heute jedenfalls keine Probleme gelöst, sondern weitere produziert. Längst ist das Betätigungsverbot zum kontraproduktiven Anachronismus geworden und muss schon deshalb schleunigst aufgehoben werden – ebenso die exekutive Ermächtigung zur Strafverfolgung der PKK als ausländische »terroristische Vereinigung«. Geht es um Propagierung und Ausübung von Gewalt, so reichen die traditionellen Strafnormen völlig aus.


Drittens: Noch ein Hindernis, das den Weg zu einer Lösung der kurdischen Frage versperrt: die EU-Terrorliste, auf der Einzelpersonen und Organisationen gelistet sind, die als terroristisch gelten. Seit 2002 finden sich darauf bis heute unter anderem die PKK und Nachfolgeorganisationen – obwohl diese Organisationen seit Jahren keine Gewalttaten in Europa verüben, sich für Friedensverhandlungen einsetzen und sich sogar für frühere Gewalt entschuldigt haben.


Mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste entsprach die EU dem Wunsch des NATO-Partners Türkei, der sich selbst gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig macht. Durch die Listung fühlte sich der türkische Staat legitimiert, im eigenen Land mit Unterdrückung und Staatsterror gegen »terroristische« Kurden und ihre Organisationen vorzugehen und allzu lange die zivile Lösung der Kurdenfrage zu torpedieren. Mit dieser willfährigen EU-Politik sind Abertausende von Kurden in Europa zu »Terrorhelfern« gemacht worden.


Für betroffene Gruppen und Personen hat die Aufnahme in die Terrorliste existentielle Folgen: Sie sind quasi vogelfrei, werden politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert – oder wie der EU-Sonderermittler Dick Marty sagte: »Wer einmal draufsteht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben« – das sei »zivile Todesstrafe« oder anders ausgedrückt: Existenzvernichtung per Willkürakt.


Die Vermögen der Betroffenen können eingefroren, Konten und Kreditkarten gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge aufgehoben werden. Hinzukommen Passentzug, Ausreisesperren, Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen, Wohnungsdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Festnahmen. Alle EU-Staaten, Banken, Geschäftspartner und Arbeitgeber, ja alle EU-Bürger sind nach dem Außenwirtschaftsgesetz verpflichtet, die Sanktionen gegen die Betroffenen durchzusetzen, weil sie sich sonst womöglich strafbar machen. Zu den Fernwirkungen zählen Kündigungen und Entlassungen, die Verweigerung von Einbürgerungen und Asylanerkennungen sowie der Widerruf des Asylstatus.


Die Terrorliste wird von einem geheim tagenden Gremium des EU-Ministerrats erstellt, wobei die für eine Listung vorgebrachten Verdachtsmomente nicht selten auf schwer überprüfbaren Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedstaaten beruhen, zum Teil auf erfolterten Hinweisen. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle aufgrund gesicherter Beweise findet nicht statt. Diese Prozedur ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie demokratischer Kontrolle. Die EU greift damit im »Kampf gegen den Terror« gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument aus dem Arsenal des »Feindstrafrechts« – eines Sonderrechts gegen angebliche »Staatsfeinde«, die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich geächtet werden. Ihre drakonische Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien Raum exekutiert – ohne Gesetz, ohne fairen Prozess, ohne Beweise und ohne Urteil.


Trotz Entrechtung der Gelisteten hat das Gericht der EU inzwischen für Rechtsschutz gesorgt und die Aufnahme in die Terrorliste und das Einfrieren der Gelder in einzelnen Fällen für rechtswidrig erklärt. Der Anspruch der Betroffenen auf Begründung der Maßnahme, auf rechtliches Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei missachtet worden. Daraufhin musste das Listungsverfahren geändert werden.


Mittlerweile ist unter anderem auch die Aufnahme der kurdischen PKK / Kadek in die Terrorliste für rechtswidrig erklärt worden. Zwar sind die Betroffenen daraufhin pro forma benachrichtigt und angehört worden, doch konkrete Abhilfe wurde nicht geschaffen, denn die gerügten Verfahrensfehler seien behoben und Begründungen nachgeliefert worden. Die Verfemten blieben also verfemt – unter Verstoß gegen Unschuldsvermutung und Europäische Menschenrechtskonvention.


Im türkisch-kurdischen Konflikt beschreiten die EU mit ihrer Terrorliste und die Bundesrepublik mit ihrem PKK-Verbot und der daraus resultierenden Kriminalisierung nach wie vor den Weg der Repression und Ausgrenzung, obwohl sich die PKK sowie die politische Situation in Europa, der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten grundlegend geändert haben. Die immer noch vorherrschende Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurden und ihren Organisationen, die im Nahen und Mittleren Osten als Stabilisatoren und im Kampf gegen den »IS« eine wichtige Rolle spielen, ist damit vollends zum Anachronismus geworden, der eine friedliche Lösung der türkisch-kurdischen Frage schwer behindert (vgl. Gössner, »Sicherer Herkunftsstaat« Türkei?, Ossietzky 22/2015).


In dieser prekären Situation, in der die EU unter Federführung der deutschen Regierung mit der Türkei einen milliardenschweren Flüchtlingsdeal geschlossen hat, kommt der EU und der Bundesregierung eine gesteigerte Verantwortung für die weitere Entwicklung in dem NATO- und (mutmaßlich) künftigen EU-Mitgliedsstaat zu. Deshalb fordern die Internationale Liga für Menschenrechte und andere Nichtregierungsorganisationen mit Nachdruck, die Kriminalisierung und Ausgrenzung von Kurden, ihren Organisationen und Medien in Europa und Deutschland endlich zu beenden sowie die Menschenrechtslage in der Türkei und die kurdische Frage unverzüglich und nachhaltig auf die Agenda zu setzen – denn das eine hängt mit dem anderen unmittelbar zusammen.