Eine Welle der Empörung geht in den letzten Monaten durch zahlreiche Medien, ihr Tenor: Ausverkauf demokratischer Grundsätze zu Gunsten realpolitischer Interessen, die EU fährt Tandem mit dem autoritären AKP-Regime. Doch welche Rolle haben die Kopenhagener Kriterien bei der Transformation der Türkei gespielt? Bis vor wenigen Jahren haben die Türkei und allen voran die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung AKP auf Grund ihrer EU-orientierten Reformen auch hierzulande vielfach Anerkennung erfahren. Um das Jahr 2013 herum soll dann eine »autoritäre Wende« der AKP stattgefunden haben. Tatsächlich aber läuft die autoritäre Transformation schon wesentlich länger, und ironischerweise sind auch die Kopenhagen-Reformen Teil dieser Transformation, die zum AKP-Regime geführt hat.
Die Kriterien von Kopenhagen, genauer die »Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 21.-22. Juni 1993«, waren in Vorbereitung der EU-Osterweiterung formuliert worden. Sie wurden und werden weithin als Instrument für die Etablierung von Demokratie und Grundrechten diskutiert. Primär aber verlangen sie die Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes, also des Regelwerks der seit den späten siebziger Jahren sukzessiv neoliberalisierten EWG. Schon vor dem Beitritt zur EU haben beitrittswillige Staaten ihre Gesetzgebung mit dem neoliberalisierten Modus der europäischen Integration in Einklang zu bringen. In diesem Sinne schränken die Kriterien die Formulierung politischer Alternativen ein.
Eine Neoliberalisierung hatte es in der Türkei gleichwohl schon vor dem Beginn EU-affiner Reformen gegeben. Besonders die führenden Großunternehmer des Landes hatten sich 1980 von einem radikalen Kurswechsel hin zur Neoliberalisierung die Überwindung der schweren Krise des Entwicklungsstaates erhofft. Der Putsch schuf jenen repressiven gesellschaftlichen Frieden, der den Kurswechsel ermöglichte. Das Militär war von den Eliten förmlich dazu gedrängt worden. Tatsächlich konnte die Krise, auch dank ausländischer Kredite, rasch überwunden werden. Die neue neoliberale Wirtschaftsordnung blieb krisenhaft und der Putsch derweil als Aktion »autoritärer Staatseliten«, nicht aber als Beginn der Neoliberalisierung, in der Erinnerung.
Gerade durch den Putsch 1980 und die sich daran anschließenden Reformen des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatte sich die Türkei Europa ökonomisch angenähert, und so hatte sie 1996 – noch vor dem Beginn der Umsetzung der Kopenhagen-Reformen – eine Zollunion mit der EU eingehen können. Diese beinhaltete nicht nur den Wegfall von Zöllen, sondern eine umfassende Regulierung der Wirtschaft. War es der Junta darum gegangen, die politische und gewerkschaftliche Linke durch Dispersion und Repression als Klassenakteurin zu neutralisieren, so bewerkstelligte das Post-1980-Regime das gleiche Ziel im wachsenden Maße durch die externe Verankerung des Wirtschaftsregimes.
Dennoch waren seit den neunziger Jahren EU-orientierte Reformen auch von einigen linken und gewerkschaftlichen Kräften begrüßt worden. Sie hatten sich davon den Abbau jener tief in den türkischen Rechtsbestand verankerten Restriktionen erhofft, die ihren legalen Spielraum als politische wie als Klassenakteure beschränkten und ihren aktiven Mitgliedern die Grundrechte raubten. So hatten sich selbst noch jene gesellschaftlichen Kräfte hinter dem EU-Projekt versammeln können, die im Grunde kein Interesse an der Vertiefung der Neoliberalisierung hatten: linke Gewerkschaften, signifikante Teile der kurdischen und auch der Frauenbewegung.
Die enge Verbindung zwischen liberal-demokratischer Perspektive und unbedingtem Neoliberalisierungsprimat macht den Kern der Kopenhagener Kriterien aus – dies trug dazu bei, die maßgeblich von der Junta nach 1980 installierte sozioökonomische Ordnung nunmehr in einen Demokratisierungsmythos einzubetten und so zu vertiefen. Bereits in den neunziger Jahren hatte also die Politik der EU-Annäherung mitnichten nur einen Prozess der Demokratisierung dargestellt. Eine neoliberale Ordnung auf Basis eines Demokratisierungsmythos schien stabiler als eine, die mit Putsch, Junta und auch Bürgerkrieg assoziiert war. Vor diesem Hintergrund hatten sich gerade auch jene gesellschaftlichen Eliten, die noch 1980 offensiv für einen Putsch eingetreten waren, nach und nach für weitere politische Liberalisierungen stark gemacht – der größte Unternehmensverband sprach von »Perspektiven einer Demokratisierung«. Die neue Ordnung brauchte die alten, von der Junta geschaffenen Institutionen nicht mehr in ihrer bestehenden Form. Sie blockierten vielmehr die weitere Annäherung an die EU und so die weitere Vertiefung des internationalisiert verankerten türkischen Neoliberalismus – zumal unter Deklassierungsdruck stehende Mittelschichten ihre Neoliberalisierungskritik zunehmend in einer chauvinistisch-kemalistischen Erzählung formulierten, die ein fetischhaftes Verhältnis zur nationalen Souveränität an den Tag legte.
Die 2002, wesentlich in Folge der bis dahin größten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Türkei, ins Amt gewählte AKP, hatte in ihrer ersten Amtsperiode (2002 bis 2007) genau von dieser Konstellation profitieren können: Während sie mit kemalistischen Strömungen, vor allem aber auf Grund ihres Ursprungs aus der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung mit Justiz und Militär im Clinch war, vertrat sie sozioökonomisch die Interessen jener kleineren und mittleren Kapitalfraktionen, die für sich seit den neunziger Jahren nach und nach Chancen innerhalb der neoliberalen Ordnung entdeckt und sich mit der ökonomischen Hegemonie der westtürkischen Großunternehmen abgefunden hatten. Ihr Bekenntnis zur vertieften Neoliberalisierung war vor diesem Hintergrund kein taktisches gewesen, sondern hatte ihren originären Interessen entsprochen. Die AKP setzte die Kooperation ihrer Vorgängerinnen mit dem IWF und die Kopenhagen-Reformen fort. Als sicherer Investitionsstandort hatte die Türkei Teile der internationalen Liquiditätsschwemme der 2000er Jahre, gerade auch durch Privatisierungen, anziehen können. Die liberal-demokratischen Teile der Kopenhagen-Kriterien drängten derweil darauf, jene überkommen Institutionen und Praxen abzuschaffen, die Teil des Erbes der Junta gewesen waren. Konsens darüber bestand weit über das engere AKP-Spektrum hinaus und war auch ein Geheimnis ihrer Wahlerfolge gewesen.
Während von der AKP-Regierung – im Konsens mit der Opposition übrigens – vor allem bis 2007 zahlreiche Reformen durchgeführt wurden, welche Grundrechte stärkten und Institutionen wie den Nationalen Sicherheitsrat beschnitten, stärkte dies zugleich die Stellung der Partei gegenüber ihren Kontrahentinnen in den Staatsapparaten. Die Reformen hatten eine Situation geschaffen, in der nach und nach die kemalistisch besetzten und kodierten Institutionen paternaler Gewaltenteilung ausgehebelt wurden – ohne dass neue Institutionen demokratischer Gewaltenteilung geschaffen wurden. Das ermöglichte der AKP eine repressivere Verfolgung verschiedenster Strömungen der politischen Opposition und ebenso eine immer offener islamistisch-nationalistisch-türkistische Politik. All dies war gerade in Europa lange gern übersehen oder gar als Beseitigung eines »kemalistischen Establishments« gefeiert worden. Besonders augenfällig wurde das während des Verfassungsreferendums 2010: Die EU-Kommission würdigte diese Reform, die den Zugriff der Partei auf höchste Justizämter stärkte, als Demokratisierungsschritt – quasi als Teil der Kopenhagen-Reformen. Als das hatte noch nicht einmal die AKP die Reform bezeichnet.
Die (Gezi-)Revolte des Jahres 2013 und alle folgenden Ereignisse, die sich sowohl gegen die neoliberale Alternativlosigkeit als auch den zunehmenden Despotismus der Regierung richten, können daher auch als Rebellion gegen die Kopenhagen-Ordnung in ihrem spezifisch türkischen Kontext verstanden werden. Die Versuche der AKP, sie niederzuschlagen, können also auch als Verteidigung eben dieser Ordnung interpretiert werden – vielleicht auch von der EU-Kommission: Ihr 2013er Türkei-Fortschrittsbericht fiel an vielen Stellen übrigens geradezu euphorisch aus und sprach von großen Fortschritten – zum Beispiel im Bereich von Sicherheit und Justiz. Die Niederschlagung der Revolte erwähnte die EU-Kommission als einzelne Fälle unverhältnismäßiger Polizeigewalt. Es stellt sich die Frage, inwieweit die EU mit ihrem jüngsten »Flüchtlingsdeal« ihre Kopenhagen-Kriterien wirklich verrät. Zumindest dann, wenn wir die Kriterien in Gänze und in ihrem Kontext zur Kenntnis nehmen – die robuste Verteidigung der Ordnung scheint dazu zu gehören.
Axel Gehring: Philipps Universität Marburg, diesen Sommer Abschluss einer Dissertation zur Politischen Ökonomie der EU-Türkei-Beziehungen und der Transformation der Türkei unter der AKP. Arbeitsgebiete: Hegemonietheorie, Staatstheorie, Türkei-EU-Beziehungen, Politische Ökonomie und Geschichte der Türkei, AKP, Europäische Integration. Aktuelle Veröffentlichungen (Auswahl): »Die Türkei vor einem Putsch?«, April 2016, http://www.zeitschrift-luxemburg.de/die-tuerkei-vor-einem-putsch/, »Abwendung von Europa? Die EU und das liberal-konservativ-islamistische Bündnis in der Türkei« in: Infobrief Türkei »Fantasie und Realität des Neo-Osmanismus«, 8/2014.