Tinatin aus Georgien ist 96. Ein Foto zeigt sie am Klavier, das sie seit 87 Jahren besitzt. Sie wird nicht Pianistin, wie vorgesehen, sondern eine – »vom Kommunismus überzeugte« – Bauingenieurin. Sie heiratet einen Architekten. Ihre drei Kinder muss sie nach dem frühen Tod des Mannes allein durchbringen. Das erste neunstöckige Hochhaus in Batumi am Schwarzen Meer – sie entwarf es. Erst 1991 gibt sie ihren Posten im Obersten Stadtrat auf. Auf einem weiteren Foto präsentiert sie ihr rotes Parteibuch, das 50-jährige Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei dokumentiert. Das hält jung.
Es ist der Kurz-Lebenslauf einer der 27 Befragten einer Studie über ältere Menschen – gleichzeitig eine Ausstellung: »Europas neue Alte«. Konzipiert von Gabriele Kostas für das Museum Europäischer Kulturen in Berlin Dahlem wird die zweisprachige Schau als Wanderausstellung jetzt in Dortmund gezeigt (bis 16. Juli, Museum für Kunst und Kulturgeschichte). Jede der ausgewählten Personen (ab 65) wird mit Fotos und kurzen Interviews vorgestellt – zur Anonymität nur mit dem Vornamen. Im hinteren Teil Fragebögen, die einen Vergleich zulassen, wie wichtig den Senioren bestimmte Themen sind, zu benoten von 0 bis zu 3 Punkten: Familie, Freundschaft, Kreativität, gutes Essen, Religion, Radio/Fernsehen, Musik, Gesundheit, Liebe, Aktivität, Lesen, Kunst/Kultur, Reisen. Gefragt wurde auch nach dem »wichtigsten Gegenstand« in ihrem Leben und welche »Pläne« sie hätten. Und: »Wann empfinden Sie jemanden als alt?« Die Befragten sahen sich selbst nicht als alt an – das fällt auf.
Indiskret die Frage, wohin und mit wem am liebsten verreist wird. Wer kann sich noch im Alter Reisen leisten? Mit wem? Der Ehepartner ist oft verstorben oder Krankheit verhindert die Mobilität. Verschämt werden diese Themen oft verschwiegen. Zum Schluss soll eine Zufriedenheitskurve des Lebens geliefert werden. Auffällig: je älter der Mensch, desto zufriedener – in der Regel. Erstaunlich.
Die Porträtierten stammen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Großbritannien, Italien, Portugal, Österreich, Russland, Schweden, Slowenien oder Spanien.
Auch aus Georgien stammt Hegumen Ilia (72). Nach dem Tod seiner Frau ging er mit 66 Jahren ins Kloster. Früher war er Politiker und überzeugter Kommunist – nun ist er Klostervorsteher. Wenn man die Essenz der kommunistischen Ideologie ganz genau nehme, dann zeige sich, dass sie auf christlicher Philosophie beruht, nur ohne Gott. Der fatale Fehler der kommunistischen Ideologie bestand – nach Ilia – darin, dass sie Gott auf die Erde verlagern wollte. Von den meisten als unwichtig angegeben: die Religion.
Noch einmal Georgien. Leila (84) würde gern reisen. »Natürlich! Sofort! Heute noch!« Seit 59 Jahren arbeitet sie als Archäologin in einem Museum in Tbilissi. Sie sollte schon seit 24 Jahren pensioniert sein. Von 12 bis 18 Uhr ist sie am Arbeitsplatz und auch bei Ausgrabungen dabei. Fotos zeigen sie beim Katalogisieren von Funden im Archivraum. Sie war nie verheiratet. Das bedeutet: tätig sein müssen auch nach Erreichen der Altersgrenze. Keine Unterstützung der Familie. Früher arbeitete sie heimlich jeden Morgen von sieben bis neun Uhr in einem wohlhabenden Haushalt als Putzhilfe.
Reisen als Mittel, um neue Menschen kennenzulernen – so hält es die pensionierte Lehrerin Renate (70) aus Deutschland. Sie knüpft Kontakte, indem sie von fremden Menschen Schnappschüsse macht und ihnen die Fotos auf verschlungenen Wegen, oft auch mit Hilfe unbekannter Kontaktpersonen später in die Hand drückt (in Goa, Lanzarote, Venedig). Nur, wer hat diese Möglichkeiten?
Ellen (81) aus Deutschland geht ganz in ihrer großen Familie auf – viele Enkel. Das verheiratete homosexuelle Paar, Michel (67) aus Belgien und Oséias (Alter nicht genannt) aus Brasilien, arbeitet jetzt intensiv in seiner Frühstücks-pension bei Lissabon. Aus Italien kommen zwei begeisterte Gartenliebhaber, die sich den Gärten Venedigs widmen. Ein Schmied aus Leidenschaft, Reinhold (81), setzte die alte Tradition fort, selbst sein Enkel arbeitet als Kunstschmied. Reinhold absolvierte sogar zusätzlich 1958 an der Humboldt-Universität zu Berlin eine »Hufbeschlagprüfung«. Nicole (76) aus Paris musste schon als Kind in der Familie dolmetschen: der Vater sprach nur Jiddisch, die Mutter Französisch. Später ging Nicole in die DDR, arbeitete bei »Intertext«, dem Fremdsprachendienst. 1974 kehrte sie mit ihrer Tochter nach Paris zurück. Heute ist sie eine erfolgreiche Übersetzerin, besonders für deutsche Literatur. Auf die Frage: »Welche Pläne haben sie?«, antwortet die 94-jährige Ilse: »Laufende Arbeiten, Referate bei der Jugendbauhütte verfilmen für eine Mediathek« und »Planung meiner Beerdigung«. Sie, die allein, aber sehr selbständig, in einem Seniorenwohnheim in Berlin lebt, hat eine Gesichtsurne entworfen nach alten Vorbildern. Ihr Motto: »Wer etwas weiß, soll es weitergeben.« Peter (80) aus Berlin ist zwar arbeitslos seit seinem 46. Jahr – aber er besucht Museen und Galerien, immer zur Eröffnung. Da gibt es einen Schluck Wein, Häppchen und interessante Leute. Auch kostenlosen Eintritt. Er versäumt es nie, sich in die Gästeliste einzutragen, so wird er immer wieder eingeladen. Auch Bibliotheken sucht er auf, um die Zeitungen zu lesen. Er hatte sogar an einer Schlingensief-Inszenierung mitgewirkt, spielte Johannes Heesters und sang. Peter, der Lebenskünstler.
Der 90-jährige Anton aus dem Egerland wurde Landarbeiter, konnte nur eine landwirtschaftliche Berufsschule besuchen – im Winter – bis er von den Nazis zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wird. An seinem achtzehnten Geburtstag genau wird er zum Militär geschickt. Verwundet kehrt er heim. Nach 1945 wird er ausgesiedelt. Mit seiner Mutter kommt er in einem Dorf im Hohen Fläming unter. Er heiratet, muss schwer arbeiten, übernimmt oft noch Nachtschichten, um etwas dazuzuverdienen. Nun lebt er im Seniorenheim, nach einigen Schlaganfällen. Er möchte gern 95 Jahre alt werden.
Der letzte in der Ausstellung (und im Katalog, Nicolai, 191 Seiten, 29,95 €) ist Wolf (72) aus Deutschland. Er stellt sich als so beschäftigt dar, dass ein Gespräch sechs Monate im Voraus gebucht werden musste. Sein Büro, das ihm als Senior Fellow zur Verfügung steht, ist vollgestopft mit Manuskripten, Büchern, Zeitschriften. Seine Sekretärin überreicht seinen Lebenslauf, das »CV« (Curriculum Vitae), auf das er mehrmals verweist. Eine Liste mit der genauen Zahl aller Veröffentlichungen, jeder wissenschaftliche Beitrag, jeder Artikel, alle Auszeichnungen sind aufgeführt. Kaum Zeit, um Musik zu hören, Ski zu fahren. Er spricht von »zielführenden Wahrnehmungen«, zu denen die Informationen verarbeitet werden – in der Hirnforschung. Sein Leben, eine sorgfältig geplante Registratur. Ein Vertreter der »neuen Alten«? Er ist die Ausnahme.