Odessa ist sechzig Kilometer lang und zwanzig Kilometer breit. Auf dem höchsten Punkt steht seit 1827 St. Paul, die evangelische Kirche. Weil, so lästern die Einheimischen, dort die Verbindung zum Himmel am Kürzesten ist. Das Schicksal des Gotteshauses und der hier tätigen Priester, wir ahnen es, war vor allem in den letzten hundert Jahren nicht eben leicht. Und als man sich Mitte der 1970er Jahre endlich ans Renovieren machte, stand das Haus bald in Flammen. Ein Arbeiter, der für sich einiges Baumaterial abgezweigt hatte, versuchte den Diebstahl zu vertuschen, indem er die Kirche in Brand setzte. Die Stadt wollte dann die Ruine abreißen lassen, doch Zivilcourage kippte den Ratsbeschluss. Namentlich der Leiter des vis-à-vis gelegenen Musikkonservatoriums, seine Dozenten und Studenten hatten dagegen protestiert. Die Ruine wurde unter Denkmalschutz gestellt und notdürftig gesichert. 2005 begann der Wiederaufbau, aus der Bundesrepublik flossen einige Millionen. Heute ist das Gemeindezentrum auch Sitz der Kirchenleitung der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine, es gibt auf dem Areal eine Sonntagsschule und weltliche Einrichtungen; beim Besuch Anfang Mai hing noch ein Transparent, das an den 500. Jahrestag der Reformation erinnerte.
Die wechselvolle Geschichte kann man als Gleichnis nehmen.
Ende Februar 2014 wurde in Kiew die eine Oligarchenherrschaft durch eine andere abgelöst. Politisch war’s dennoch ein Staatsstreich, der nicht zuletzt von den USA erzwungen wurde, um einen Keil zwischen Westeuropa und Russland zu treiben. Alles, was danach kam, war Folge, nicht Ursache des Konfliktes mit Russland.
In Odessa, auf dem Platz vorm Gewerkschaftshaus, hatte sich damals ein Anti-Maidan etabliert. Und das Protestcamp bestand noch, als in Kiew die Würfel gefallen waren und überall im Land der rechte Mob sein Unwesen trieb. Wie das gallische Dorf, in dem einst Asterix und Obelix hausten, leisteten Hunderte auf dem Kulikowo Pole demonstrativ Widerstand. Zeigten Zivilcourage wie weiland das Konservatorium. Erstens weil in Kiew die Verfassung gebrochen worden war, zweitens weil die neuen Machthaber Gesetze erließen, die sich vornehmlich gegen die im Osten und Südosten des Landes lebende russische Mehrheit richteten, diese geradezu ausgrenzten. Drittens schließlich wegen der stetig schlechter werdenden sozialen Lage. Lage. (Übrigens war das der ursprüngliche Grund, weshalb sich im Spätherbst 2013 viele Menschen auf dem Kiewer Maidan versammelt hatten. Erst später wurde der Protest von politischen Hasardeuren, von faschistischen und nationalistischen Kräften und Washingtons willigen Vollstreckern gekapert und in eine andere Richtung gedrängt.)
Der Anti-Maidan von Odessa existierte also fort. Darum musste er beseitigt werden.
Ende April 2014 verabschiedete der mit dem »Rechten Sektor« verbandelte Andrij Parubi, »Kommandeur des Maidan« in Kiew, nunmehr »Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine«, mehrere Hundertschaften von Rechtsextremisten nach Odessa. Diese hielten sich einige Tage in Einrichtungen außerhalb Odessas auf, ehe sie von der Kette gelassen wurden. Die Kulisse lieferte ein Fußballspiel, vor dem die Fans beider Mannschaften gemeinsam durch die Straßen Odessas zogen. Unter diese hatte sich das Halbtausend Terroristen aus Kiew gemischt. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen, sechs Menschen starben. Dann jagte der Faschistenpulk zum Gewerkschaftshaus, zündete die Zelte des Anti-Maidan an, prügelte auf die Protestler ein, von denen ein Teil ins Haus flüchtete, wo sie aber offenkundig bereits erwartet wurden. Es flogen Molotow-Cocktails von außen wie von innen, Chlorgas wurde abgelassen und Napalm freigesetzt. Einige Menschen sprangen aus Fenstern und wurden, sofern sie den Sturz überlebten, mit Baseball-Schlägern zu Tode geprügelt. Dem Massenmord fielen mindestens 48 Menschen zum Opfer.
Bis heute sind weder Täter noch Hintermänner des Massakers ermittelt. Drei Mal wechselte die Besetzung der Untersuchungskommission, und von den 180 verhafteten Opfern (!) befinden sich noch immer zwei in U-Haft. Mit einem Rechtsstaat hat das nichts zu tun. Wohl aber mit einem Polizeistaat.
Am Mittwoch, dem 2. Mai 2018, erinnerte sich die Millionenstadt am Schwarzen Meer der Vorgänge vor vier Jahren. Zur Gedenkveranstaltung kamen vielleicht zweitausend Menschen. Der eingezäunte Bau steht noch so da wie vor vier Jahren, der Regen hat nicht alle Brandspuren beseitigt, viele Scheiben sind kaputt. Die dezimierte Gewerkschaft hat kein Geld zur Renovierung, und der kurzzeitig amtierende Gouverneur Saakaschwili wollte den Block dem Militär übereignen, womit er aber nicht durchkam.
Die Trauernden erinnerten schweigend, ohne Musik und Transparente, Fahnen und Reden waren verboten. Die Stadtverwaltung hatte jegliche politische Bekundung untersagt. Und genügend Polizisten waren vor Ort, man sprach von rund zweitausend, die das Verdikt gewiss durchgesetzt hätten, wäre dagegen verstoßen worden. Frauen trugen die Konterfeis ihrer ermordeten Männer, Brüder, Söhne auf weißen T-Shirts, Namen der Toten und ihre Biografien wurden verlesen. Entgegen der Behauptung, man sei am 2. Mai 2014 gegen russische Provokateure vorgegangen – der damals amtierende Ministerpräsident Jazenjuk hatte behauptet, es sei eine russische Geheimdienstaktion gewesen –, handelte es sich bei den Toten, wie zu vernehmen war, ausnahmslos um ukrainische Staatsbürger. Einigen von ihnen hatte man nachträglich russische Pässe unterzuschieben versucht.
Unter die Umstehenden mischten sich junge Männer vom Rechten Sektor, die bereits am Vortag die 1.-Mai-Demonstration gestört und gesprengt hatten. Auch hier provozierten sie mit Gesten und Worten. Es gäbe nichts zu betrauern, erklärte der Wortführer den Journalisten, man habe damals »Kartoffelkäfer« verbrannt. Es sei ein Tag des Sieges gewesen. Folgerichtig nannte sich der drei Stunden später angesetzte Marsch der rechten »Patrioten« durch die Stadt »марш українського порядкудо четвертої річниці перемоги одеситів«, Marsch der ukrainischen Ordnung zum vierten Jahrestag des Sieges von Odessa. Die überall in der Stadt angebrachten Plakate erinnerten fatal an die Bildsprache des »Dritten Reiches«.
Dann flogen schwarze Ballons übers Dach und weiße Tauben ihnen nach, das Weihwasser des Popen nässte Gerechte und Ungerechte, schließlich zerstreute sich die Menge. Am Zaun blieb ein Blumenmeer zurück. Es heißt, dass über den ganzen Gedenktag hinweg zehntausend Bürger hier waren, sie hatten sich weder von der Polizeipräsenz noch von der Meinungsmache einschüchtern lassen.
Am Fuße des Denkmals des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko versammelten sich die Rechtsextremisten der Stadt. Die Partei Swoboda und der Rechte Sektor, der Nationale Korpus und die Straßenfront hatten dazu aufgerufen. Unter massivem Polizeischutz und nationalistischen Sprechchören (»Ruhm der Ukraine!« und »Ehre den Helden!«, »Russen raus aus der Ukraine!« und »Ukraine den Ukrainern!«), mit Fahnen und martialischer Musik zogen sie dahin. Nirgendwo regte sich Protest, es stand zu befürchten, dass sonst Blut geflossen wäre. Die stummen Zuschauer am Rande, zu ihren Eindrücken befragt, erklärten, sie hätten weder mit Poroschenko noch mit Putin etwas am Hut, sie wollten nur Ruhe und Frieden, und auch diese Sturmtruppen wären bald Geschichte.
So zogen denn die Enttäuschten und Verführten, die Perspektivlosen und Ausgegrenzten mit Gebrüll dahin. Einmal, so zeigten ihre glänzenden Augen und die weit aufgerissenen Münder, besaßen sie vermeintlich Bedeutung, indem sie wahrgenommen wurden.
Die jungen Burschen mit den muskulösen Oberkörpern marschierten auch durch die Deribasovskaja, Odessas bunten Boulevard, der von Straßencafés und Restaurants gesäumt wird. Bis eben noch pulsierte hier das Leben, Musiker spielten, junge Leute flanierten unbeschwert, Kinder saßen auf Ponys oder verspeisten Zuckerwatte. Leben konnte so schön sein. Und nun stampften uniformierte Kerle übers Kopfsteinpflaster, ließen ihre »Helden« wie den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera hochleben und versprachen allen Verrätern und Aggressoren den Tod, besonders den »Moskalen«, wie die Russen höhnisch verschrien wurden.
Vor dem Spruchband an der Spitze des Zuges marschierte eine kleine, zierliche Person in Jeans und olivgrünem T-Shirt, mit langem Haar und Unschuldsmiene. Als sie später mit den anderen Nazi-Häuptlingen – darunter Swoboda-Chef Tjagnibok als prominenter Redner – auf dem Lautsprecherwagen stand, wurde publik: Das ist Tatjana Sojkina, die Chefin des Rechten Sektors von Odessa. Und was rief sie, frenetisch bejubelt, ins Rund? »Wir sind überzeugt, dass wir in Odessa für Ordnung sorgen, so wie wir in der Ukraine eine richtige ukrainische Ordnung einführen werden. Die Ukraine wird den Ukrainern gehören und nicht den Juden, nicht den Oligarchen. Es lebe die Ukraine!« Für Juden gebrauchte sie den Begriff »Schidi«, was noch eine Spur abfälliger ist.
Innenminister Arsen Awakow twitterte umgehend, »öffentliche antisemitische Aufrufe« seien »in der Ukraine nicht zulässig«. Das geschah wohl in erster Linie mit Blick auf ausländische Adressen. Denn letztlich stützt sich Kiews Macht seit 2014 auf diese antisemitischen, faschistischen Truppen. Erstaunlich, dass man in der fernen Hauptstadt fast zeitgleich Notiz von diesem Aufmarsch genommen hatte ...
Ach, es ist dem Land wie unserem Kontinent zu wünschen, dass Zivilcourage auch diese Gespenster vertreibt. Das, so scheint es, ist ein langer Weg. Die Frage aber, ob uns so viel Zeit gegeben ist, um heil das Ziel zu erreichen, ist nicht klar zu beantworten. Geschichte ist immer nach vorn offen.