Seit vorigem Jahr gibt es eine documenta-Professur an der Universität Kassel. Nun werden für ein geplantes documenta-Institut drei weitere Professuren eingerichtet. Das dokumentarische Material von der ersten dieser Weltausstellung 1955 bis zur 14. im vorigen Jahr ist überbordend und harrt trotz vieler Veröffentlichungen noch einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung. Jetzt ist ein neues Buch hinzugefügt worden, das allerdings keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, sondern ausdrücklich mit »Alternativen Fakten« aufwartet: »documenta persönlich. Weitere Erinnerungen an die Weltkunstausstellungen«, im Jonas-Verlag Weimar herausgegeben von dem Kasseler Kunsthistoriker Harald Kimpel. Mit 38 meist schon vorher veröffentlichten »verstreuten Reminiszenzen« von Organisatoren, Künstlern, Besuchern oder anderen Zeitzeugen schließt es sich an den 2012 erschienenen Band »documenta emotional« an. Es handelt sich um anekdotische Erinnerungen an Eindrücke, Begegnungen, Erlebnisse rund um das Ausstellungsgeschehen. Alternative Fakten seien es deshalb, weil sich durch den zeitlichen Abstand Ungenauigkeiten oder gar Fehler eingeschlichen haben. Der Herausgeber ist aber davon überzeugt, dass manch empfundene Wahrheit mehr Wahres enthalte als manch empfundene Wissenschaft. Da auch Geschehen am Rande eine Rolle spielt und manch Hintergründiges zu Tage kommt, »rütteln [die Beiträge] an den Toren, hinter denen die vergangenen Ereignisse konserviert werden«, so Kimpel.
Mit elf Beiträgen ist die documenta 6/1977, auf der erstmals DDR-Künstler ausstellen durften, die am meisten bedachte. Darunter befinden sich vier aus dem Osten des Landes: zwei des Kunsthistorikers Lothar Lang (1928 – 2013), der in offizieller Mission die Präsentation begleitete, sowie Texte der Kunsthistoriker Wolfgang Hütt und Peter Michel, welche an der über den Verband bildender Künstler organisierten Reise nach Kassel teilnehmen durften. Das Auftreten der DDR in Kassel war spektakulär, gab es doch auf westlicher Seite nicht nur Jubel darüber, sondern auch massive Proteste. Auf Seiten der Kulturfunktionäre der DDR wiederum war man nicht erfreut, dass Lothar Lang die wissenschaftliche Betreuung übernehmen sollte. Aufgenommen ist unter dem Titel »Die Geschichte ist über diese Rankünen hinweggegangen« aus seinem Erinnerungsbuch »Ein Leben für die Kunst« von 2009, wie es zu dem Auftrag gekommen war, welches Konfliktpotential in dem DDR-Auftritt für beide Seiten lag, wie unterschiedlich die DDR-Künstler von »documenta-Künstlern« aufgenommen wurden und wen er selbst in Kassel kennengelernt hat. In dem von Sebastian Preuss 2002 mit Lothar Lang für die Berliner Zeitung geführten Interview, das mit der Überschrift »Zum Erstaunen von Beuys kannte Tübke die aktuellste Hutmode« nachgedruckt wurde, widerlegt Lang Aussagen von Hannelore Offner in dem Buch »Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961 – 1989« von 2000, den Ausschluss Pencks von der Ausstellung betreffend.
Die Kunsthistoriker Wolfgang Hütt mit »Als wir die Grenze erreichten, dämmerte der Morgen« und Peter Michel mit »Vieles war und blieb uns fremd« wiederum schildern unabhängig voneinander interessante, schon fast kuriose Details, wie die Reise der ausgewählten Verbandsmitglieder vonstattenging. Auch die Wertschätzung der »Beherrschung des künstlerischen Handwerks« und der »kulinarischen« Malerei bei den Ostdeutschen wurde von beiden beobachtet.
Der 1980 ausgebürgerte Jürgen Schweinebraden Freiherr von Wichmann-Eichhorn äußert sich zehn Jahre später zur documenta 8. Im Berliner Prenzlauer Berg hatte er mit etwa 70 Ausstellungen eine illegale Galerie betrieben. Nun war er im Westen engerer Mitarbeiter von documenta-Chef Manfred Schneckenburger geworden. In seinem Beitrag »Interesse und Engagement als Grundlage, auf der Stress keine Chance hatte« gibt er zu, dass er »vielleicht noch nicht ›im Westen angekommen‹ war«. Zu der Erkenntnis gelangte er unter anderem durch unangenehme Erfahrungen mit der Meinungsmanipulation durch die Medien und dem »Konsumismus im Kapitalismus«.
Die Texte von »documenta persönlich« beziehen sich auf die documenta 1/1955 bis 9/1992, teilweise vom Herausgeber durch Fußnoten mit umfangreichen Kommentaren versehen. Es sind ihnen dokumentarische Fotos beigeordnet, von denen viele hier erstmals veröffentlicht wurden. Die Autoren werden mit einer Kurzbiografie vorgestellt.
Als weitläufig bekannte findet man Günther Uecker unter ihnen und für die Leser aus Berlin-Brandenburg Adrian von Buttler, der von 2001 bis 2006 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg war, auch Merceldes Vostell, die Witwe des Künstlers und künstlerische Direktorin des Museo Vostell Malpartida. Aber statt Prominenz wollte Kimpel ausdrücklich Vielfältigkeit, und die ist in seinem Buch auf alle Fälle gegeben.
Harald Kimpel (Hg.): »documenta persönlich. Weitere Erinnerungen an die Weltkunstausstellungen«, Jonas Verlag, 144 Seiten, 20 €