Zum Auftakt der diesjährigen Reisesaison ist Marco d`Eramos große Studie über den Tourismus als epocheprägendes Massenphänomen auch auf Deutsch erschienen. Doch schon der Begriff Reisesaison trifft die heutige Situation nicht mehr, denn Tourismus ist nach dem Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig geworden in Raum und Zeit. Er ist heute mit einem komplexen regelrechten Produktionssystem weltweit nicht nur die Industrie mit dem stärksten Wachstum (sein Volumen betrug 2014 bereits gut zehn Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts), sondern die ihm zugrundeliegende Mobilität hat individuelle, gesellschaftliche und politische Relevanz. Nicht von ungefähr führt d`Eramo eingangs das paradox anmutende Beispiel des Sommers 1989 an, als Ungarn seine Grenzen für 13.000 DDR-Touristen öffnete und die Druckwelle der Ausreisewilligen schließlich im November zur Öffnung der Berliner Mauer führte, einem auslösenden Faktor der folgenden Implosion der UdSSR und unserer bipolaren Welt. Sicher waren es nicht allein die Touristen, die die zweitstärkste atomare Weltmacht zu Fall gebracht haben. Doch im Kontext größerer Komplexität spielte die Forderung nach Reisefreiheit als Menschenrecht eine wichtige Rolle. Dass Touristen seitdem auch in anderen Zusammenhängen zu einer politischen Manövriermasse geworden sind, zeigen die vermehrten Terroranschläge seit den 90er Jahren auf Touristenzentren, in Luxor wie in Bali, Tunis, Istanbul, Paris und so weiter, ganz zu schweigen von der gezielten Zerstörung archäologischer Monumente und Tourismus-Attraktionen unter anderem im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien, Jemen.
Die Menschheit ist mobil, seit es sie gibt, die Formen ihrer Mobilität sind abhängig von den ökonomischen und technischen Bedingungen. Der Autor gibt einen umfassenden Überblick über die historische Entwicklung des Reisens mit einer Fülle von Zitaten aus der überreichen internationalen Literatur zum Thema.
Die Tourismusindustrie begann sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln, als die Revolution der Transportmittel und der Kommunikation über weite Distanzen Reiseformen ermöglichte, die bis dahin undenkbar gewesen waren. Schon 1849 sah John Ruskin voraus, dass die Eisenbahn den Reisenden in eine Art lebendes Paket verwandeln würde, denn der erinnere sich kaum an die Namen der Städte, die er nur durchfahren und deren Kirchtürme er nicht voneinander unterscheiden könne. Dieses »Sehen ohne wahrzunehmen« brachte schon das heute verbreitete touristische Konsumverhalten auf den Punkt. Damit nahm nach und nach auch die Unterscheidung zwischen dem positiv konnotierten »Reisenden« und dem eher abschätzig klingenden »Touristen« ihren Anfang. Innerhalb der Massengesellschaft sind alle zu Touristen geworden, doch keiner möchte es eigentlich sein. Alle möchten vor allem auf möglichst wenig andere treffen. (Immer wieder bitten mich Venedigbesucher, ihnen doch ein nicht-touristisches Esslokal zu nennen – unmöglich in einer Stadt, in der die tägliche Zahl der Touristen, circa 65.000, die der Einwohner, 54.000, längst übersteigt.)
Marco d`Eramo zieht die Linie von Mark Twains noch abenteuerlichen und schon ironischen Reiseberichten zum heutigen TripAdvisor und zur World Heritage-Kultur der Unesco als »schöne Seele« der Tourismusindustrie, die durch die Verleihung ihres Labels das erhalten möchte, was durch die darauf stetig wachsenden Besuchermassen zerstört wird. Er beschreibt die von vielen vor ihm erkannte Verdinglichung unserer Welt und den Tourismus als einen der Brennpunkte, in dem sich alle Widersprüche der Warengesellschaft am deutlichsten zeigen.
So in den zu tourist cities verkommenden Stadtzentren, deren bisherige soziale Grundlage durch ökonomische Umwälzungen wie die Deindustrialisierung aufgelöst wird, eine Entwicklung, die auch in Italien schwer lösbare Probleme aufwirft. Das klassische Beispiel dafür bietet Venedig, das schon vor langem, nämlich bald nach dem Ende seiner kommerziellen Weltmachtstellung im 17. Jahrhundert, seinen Carnevale fast sechs Monate lang im Jahr als Attraktion für die europäische Aristokratie inszenierte, die dort ihren politischen Niedergang zu vergessen und kompensieren suchte. Die schier unendlichen Kunstschätze zogen zudem schon im 18. Jahrhundert Zehntausende Besucher an.
Und konnte man im Mai 1868 im Putnam‘s Monthly Magazine lesen, dass das neue Zeitalter des Reisens bald dazu führe, dass die Hälfte der zivilisierten Menschheit ständig unterwegs sei und die zukünftige Geschichtsschreibung jene Epoche als nomadische benennen müsse, so sind wir heute in der Tat dort angekommen. Zumal nicht nur Millionen Urlauber sich ständig durch die Welt bewegen, die großenteils ihren entfremdeten Normalexistenzen zumindest zeitweise entfliehen wollen auf der Suche nach einem authentischen »Anderen«, sondern auch ihre komplementären Gegenbilder, die Migranten, auf der Suche nach Existenzmöglichkeiten überhaupt. Und oft sind die einen gleichzeitig Nachkommen der anderen.
Marco d`Eramo sieht am Schluss seines dichten Diskurses das mögliche Ende auch des bisherigen Tourismus und seiner Phänomene nach Auflösung der bisherigen Strukturen und der institutionellen disziplinären Systeme einer auf Lohnarbeit basierenden Produktion der letzten 200 Jahre. Nach dem Wegfall der sowjetischen Alternative, die mit dem bis dahin notwendigen Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital in der westlichen Welt die sogenannte Freizeit mit bezahltem Urlaub ermöglichte, erübrigt sich mit dem zunehmenden Ende der Lohnarbeit für viele im Westen auch die finanzielle Basis des Massentourismus. Ein veränderter zeitlicher und räumlicher Horizont von der bisherigen dreidimensionalen zu einer multidimensionalen Welt ändert das gesamte Leben. Er verbindet die, die weit entfernt sind, und entfernt jene voneinander, die nebeneinander stehen. Internet verbindet die Teilnehmer zu Gruppen, zu Clustern soziologischer und ideologischer Homogenität. Menschen bewegen sich zunehmend in verschiedenen räumlichen Dimensionen, weil sie zeitweise hier arbeiten und dort wohnen, und die räumlichen Distanzen entsprechen nicht mehr der Entfernung in Kilometern, sondern der Art der Verkehrsmittel, die sie überwinden lassen. Das Ferne rückt näher als das Nahe: In den letzten 100 Jahren hat sich die zeitliche Distanz zwischen Rom und New York zwanzigfach verringert, die zwischen Rom und Mailand nur halbiert, und die Kosten eines Fluges stehen nur noch im ökonomischen Verhältnis zur Auslastung der Routen. Die neuen Kommunikationsmittel sind nicht mehr, wie noch bis vor rund 30 Jahren an feste Orte gebunden, sondern ermöglichen jene Mobilität, jenen Nomadismus, dem die uns umgebenden zerbröckelnden Strukturen noch widerstehen. Ob der herkömmliche Tourist dahinter aber tatsächlich in absehbarer Zeit verschwinden wird, wie die einstigen Nachtzüge mit Schlafwagen oder die Dampfschiffe, wie der Autor meint, sei dahingestellt.
Marco d`Eramo: »Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters«, aus dem Ital. übersetzt von Martina Kempter, Suhrkamp, 362 Seiten, 26 €