Der 200. Geburtstag von Karl Marx war ein Ereignis, an dem Politiker, Gesellschaftswissenschaftler, Ökonomen, Philosophen, Aktionäre und andere normale Berufsgruppen schlecht vorbeigehen konnten, egal, wie sie zu dieser Ikone kühner und zukunftsgerichteter Prognosen auch stehen mögen. Die einen würdigten Marx‘ Analysen und Spurenlegungen, andere setzten Fragezeichen und kritisierten ihn beckmesserisch mit dem Wissen und aus dem Abstand der Gegenwart, und dritte bewerteten ihn von Nebengleisen aus, weil sie sich seiner und ihrer Popularität wegen kein Verschweigen leisten können. Und manche taten sich auch schwer damit, die richtigen Proportionen zu finden, weil sie sich nicht selbst beschädigen wollten. Immerhin war Marx trotz der üblichen Schmach bereits (oder noch?) vor 15 Jahren auf dem dritten Platz der ZDF-Umfrage nach dem »größten« Deutschen gelandet.
»Der Bart ist noch lange nicht ab«, überschrieb der Berliner Kurier am Vortag des Marx‘schen Wiegenfestes seinen Glückwunsch. Und auch der Untertitel »Warum wir dem berühmtesten Kapitalismus-Kritiker heute noch dankbar sein können« ruft bei den eher Häme gewöhnten Lesern zumindest Erstaunen hervor. »Das Werk des Philosophen ist durchzogen von einem leidenschaftlichen Humanismus«, wird der Bundespräsident zitiert. Wenn das keine neuen Töne aus berufenem Munde sind ...
Kaum haben sich der 500-jährige wittenbergische Thesenanschlag ausgeluthert und die Wogen um die unterschiedlichsten Bewertungen der 100-jährigen russischen Revolution geglättet, geraten der Geburtstag des Klassikers, das 170. Jubiläum des Erscheinens des »Kommunistischen Manifests«, die 1848er Revolutionen und ihre näheren und ferneren Umstände in den Focus. Immerhin: Marx‘ Geburtstag am 5. Mai war den Filmemachern, den Fernsehsendern und den noch gedruckten Medien eine erstaunliche Fülle von Veröffentlichungen wert. Die Superillu nahm sich einer mehrseitigen illustrierten Vita des unerreichten Theoretikers an. Kolumnist Gregor Gysi empfahl dem Bundespräsidenten und der Kanzlerin einen Besuch auf dem Highgate-Cemetery in London. Bereits am 2. Mai war »Mohr« ein anregendes Thema des Fernsehabends: Schauspielerlegende Mario Adorf verlieh Marx in dessen letzten Lebens- und Schaffensjahren nicht nur ein überzeugendes Gelehrtenprofil, sondern tiefe menschliche Züge. Historiker und Biographen wie Jürgen Neffe und Rolf Hosfeld dienten dem Anliegen durch Sachkunde und die persönliche Art ihrer Einblendungen (ZDF: »Karl Marx – der deutsche Prophet« von Peter Arens, Stefan Brauburger und Peter Hartlund). Und in der nachfolgenden spätabendlichen Dokumentation »Marx und seine Erben« wurde unter anderem festgestellt, dass keiner, der wie Marx so viel über Geld geschrieben hat, selbst so wenig davon besaß.
Die Wochenendausgabe der Märkischen Zeitung vom 28. April befragte Mario Adorf zu seiner Rolle und zu seiner Einstellung zu Marx. »Man kann ihn wieder objektiv sehen«, urteilte der Mime. »Er hat vorausgedacht, er hat die Globalisierung vorausgesehen ...« Schon in seinen Jugendjahren war Adorf nach eigenem Bekennen ein »fanatischer« Leser des Manifests und des ersten Bandes des »Kapitals«. Dabei war es für ihn ein schmerzhafter Vorteil, die Situation der Akkordarbeiter notgedrungen am eigenen Leibe verspürt zu haben.
Leichtes Spiel hatte der Eulenspiegel Verlag, der bereits 2008 den Karikaturenband »Grüß Gott! Da bin ich wieder!« vorlegte, der 600 Marx-Karikaturen aus aller Welt über einen Zeitraum aus circa 150 Jahren umfasst. »Haben wir ihn immer zu ernst genommen?« fragt Harald Kretzschmar in der Einleitung. »Er war immer der Alte. Eine unerreichbare Instanz. Von einem Unfehlbarkeitsanspruch ist nichts bekannt.« Letzterer kam eher von seinen Verfechtern. Aber: »Ein Kreuz lässt sich nicht von oben verordnen!« Der das im Zusammenhang mit der Ausstattung von Amtsstuben unlängst artikulierte, trägt zufällig auch den Namen Marx, fungiert jedoch in der BRD als Kardinal. Schade, dass beide Marx-Persönlichkeiten nicht auf der Bühne des Deutschen Theaters zu einem Dialog zusammengeführt werden können.
Die immer noch zahlreichen Büsten und Standbilder des unerreichten gesellschaftstheoretischen Urgesteins und Wirtschaftsdenkers erinnern, manchmal übermächtig wie der großköpfige Chemnitzer »Nischel« oder unauffällig wie das bescheidene Relief an einer Hauswand der Neuköllner Karl-Marx-Straße oder die leicht übersehbare Stele am Berliner Strausberger Platz, ebenso wie Straßen- und Platzbezeichnungen in den inzwischen nicht mehr ganz neuen Bundesländern an den Mann mit dem repräsentativen Rauschebart. Und Engels (stehend) und Marx (sitzend) befänden sich jetzt noch in Rückenhaltung zum Palast der Republik, wenn es den noch an der alten Stelle gäbe und ihr Standort nicht die U-Bahn-Verlängerung gefährdet hätte. Es erwies sich auch als Segen, dass sich die vorauseilende Rück- und Umbenennungssucht einiger städtischer Behörden nicht im ehemaligen Westen durchgesetzt hat. Sonst müssten die Briefträger des hauptstädtischen Bezirkes Neukölln eifrig nach einer Karl-Chemnitz-Straße suchen, um eine Zahlungsmahnung an die Frau oder an den Mann zu bringen. Auf ein dem Geburtsort Trier geschenktes bronzenes Denkmal für den Überphilosophen kann die Stadt übrigens stolz sein, auch wenn – oder gerade weil – die Volksrepublik China der Sponsor ist. Das Präsent korrespondiert mit dem Aufruf Xi Jinpings, Staatspräsident Chinas und Generalsekretär der chinesischen KP, an seine Mitbürger, das »Kommunistische Manifest« zu lesen.
Pardon, lieber Leser. Ich bin bei meinen splitterhaften Gedanken über das Marx-Jubiläum auf Abwege geraten. Eigentlich hatte ich nur die Absicht, auf eine bemerkenswerte Schrift hinzuweisen: auf Wolfgang Triebels handfestes und geistvolles Manifest über das »Kommunistische Manifest«. Die Lektüre kann ich wärmstens empfehlen – und das nicht nur, weil das Original wie auch der erste »Kapital«-Band von der UNESCO längst in das Weltdokumentenerbe aufgenommen wurden.
Wolfgang Triebel: »›Proletarier aller Länder vereinigt euch‹ – auch im 21. Jahrhundert? Zur 170. Wiederkehr der Veröffentlichung des ›Manifest der Kommunistischen Partei‹ von Marx und Engels. Ein Beitrag zum 200. Geburtstag von Karl Marx«, Trafo Verlag, 204 Seiten, 19,80 €