erstellt mit easyCMS
Titel1018

Kein Nekrolog. Zur Rolle des Intellektuellen  (Jürgen Pelzer)

Warum wird eigentlich immer wieder der Tod des einstmals allgegenwärtigen Intellektuellen ausgerufen? So wollte Hans Ulrich Gumbrecht vor wenigen Wochen in einer Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) die noch verbliebenen Intelligenzler in den »wohlverdienten« Ruhestand schicken, um Platz für ein »neues Denken« zu machen, das jenseits aller »ethischen Wohlgefälligkeit« endlich wieder etwas »riskiere«. Derartige Schelte hat Tradition: Bereits 1984 hatte François Lyotard als »Totengräber« fungiert, um sich so von dem kurz zuvor gestorbenen Übervater Jean-Paul Sartre abzusetzen. Allgemeiner betrachtet, ging es um die Verabschiedung universalistischer Meisterdiskurse und das Abrücken von linken Positionen, da das Subjekt revolutionärer Veränderungen abhanden gekommen schien und auch keine Opfer der Geschichte mehr diagnostiziert wurden, für die man sich hätte einsetzen können. Diese postmoderne Skepsis gewann nach dem Ende des Staatssozialismus im Ostblock an Dynamik, da sich führende Intellektuelle in ihrer Einschätzung der Lage geirrt hatten. Freilich war bald fast alles, was als links gelten mochte, desavouiert, wie Adorno es formuliert hätte. Es zeigte sich außerdem, wie leicht sich das Vorurteil gegenüber den abgehobenen, privilegierten, ja elitären Kopfarbeitern, das in vielen Gesellschaften grassiert, reaktivieren ließ. Da sich in der Folge die Fälle, in denen sich die angeblich so einsichtigen Intellektuellen irrten oder eklatante Fehlurteile abgaben, häuften, ging ein amerikanischer Wirtschaftsjurist, Richard Posner, sogar soweit, den Intellektuellen (wozu er allerdings selbst gehört) jegliche Kompetenz oder moralische Qualifikation abzusprechen. Kritik, die sich nicht auf Insiderwissen oder konsensfähige Positionen stützen konnte, sollte so von vornherein abgeblockt werden.

 

Um die Entwicklung zu verstehen, muss man freilich breiter ansetzen und sollte sich nicht auf immer wieder herbeizitierte Großintellektuelle beschränken. Schließlich sind Intellektuelle Teil einer sozialen Schicht, die seit Jahrhunderten in fast allen Gesellschaften existiert, der kleinen, aber einflussreichen und unverzichtbaren Schicht der Intelligenz. Intellektuelle im engeren (und modernen) Sinn sind jene Vertreter der Intelligenz, die sich, gestützt auf Fachwissen und Reputation, an die Öffentlichkeit wenden (in welcher Form auch immer), um sich für übergreifende gesellschaftliche Ziele einzusetzen. Diese Funktion lässt sich bereits in der europäischen Antike beobachten (die Meisterdenker Platon und Aristoteles hatten stets die Praxis im Auge) oder auch in der frühen Neuzeit, wenn man etwa an Leibniz oder Spinoza denkt, die sich aktiv in die Politik einmischten, wenn ihnen dies nötig schien. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts waren die Philosophen Voltaire, Diderot und Rousseau Hauptvertreter der breiten emanzipatorischen Bewegung der Aufklärung, für deren Ziele und Institutionen sie kämpften. Sie konnten sich erstmals an eine bürgerliche Öffentlichkeit wenden, in der das Für und Wider gesellschaftlicher Imperative verhandelt werden konnte.

 

Im Fall der zolaschen Intervention zugunsten des jüdischen Generalleutnants Alfred Dreyfus war freilich diese gesellschaftliche Aufbruchssituation nicht mehr gegeben, ja es zeigten sich hier in aller Deutlichkeit die Ressentiments gegenüber den Intellektuellen als unpatriotischen, liberalen Vertretern eines abgehobenen, elitären Standes. Immerhin gab es noch eine funktionierende, ja sogar florierende Presse. Ohne die viel gelesene und einflussreiche L‘Aurore hätte Zola vermutlich keinen Erfolg gehabt.

 

Die – auch heute noch abrufbare – Antihaltung gegenüber Intellektuellen sollte man stets im Auge behalten, wenn man die weitere Entwicklung im 20. Jahrhundert betrachtet. Zunächst einmal sollte freilich das Beispiel Zolas seine Strahlkraft bis weit ins 20. Jahrhundert und vor allem im Kampf gegen den deutschen und europäischen Faschismus unter Beweis stellen. Auch die Entwicklung nach 1945 mag vordergründig positiv erscheinen, doch bei näherem Hinsehen ist sie ambivalent. Dies wäre allerdings für jedes Land gesondert darzustellen. So gab es in Frankreich – zumindest bis 1980 – einen höchst lebendigen öffentlichen Diskurs. In anderen Ländern, etwa der alten Bundesrepublik, in der sich eine halbwegs funktionierende Öffentlichkeit nur zögerlich entwickelte, sorgte der herrschende Antikommunismus dafür, dass sich Intellektuelle meist auf die Position des Nonkonformistischen und des Freischwebenden zurückzogen, was als kritisch gelten konnte, in Wahrheit aber politisch folgenlos war. Selbst eine implizite oder vorsichtige Gesellschaftskritik konnte leicht in die linke Ecke gerückt und des Subversiven bezichtigt werden. Welch schwerwiegende, ja persönlich verletzende Reaktionen eine öffentliche Stellungnahme haben konnte, hat vor allem der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll erfahren müssen.

 

Doch entscheidend für die Rolle und die Funktionsweise des Intellektuellen sollte schließlich der bereits in den 1960ern einsetzende Siegeszug der Medien sein, der die Spielregeln des öffentlichen Diskurses entscheidend veränderte, der nun nicht mehr auf Bildung oder akademischem Wissen, auf Literatur oder Intellektualität basierte, wie dies in den vorangegangenen Jahrhunderten üblich gewesen war. Die Intellektuellen, namentlich die literarischen, gerieten in die Mühle der Medien und waren ihrer Wirkung ausgesetzt, selbst was literarische Werke und deren Präsentation betraf. Die modernen Medien, namentlich die allbeherrschende Mainstreammaschine Fernsehen, ließen sich nicht einmal theoretisch für Interventionen à la Zola nutzen. Interessanterweise entwickelte sich aber in den letzten Jahrzehnten – in Frankreich wie zum Teil auch in Deutschland – eine Art Medienintellektueller, dessen Präsenz von vornherein auf der Performance, der Inszenierung als Star-Event und den angestrebten Einschaltquoten beruht. Dass solche Intellektuelle zahm und zahnlos wirken, ist nur folgerichtig, denn wer in diesem Kontext reüssieren will, muss sich selbstverständlich an die Bedingungen des riesigen Medienapparats anpassen.

 

So betrachtet, sieht also die Lage der Intellektuellen alles andere als vielversprechend aus. Doch sollte man nicht nur das Verschwinden charismatischer Großintellektueller oder die veränderte Medienlandschaft bejammern, sondern stattdessen den Blick auf die breiten, mittlerweile stark angewachsenen intellektuellen Schichten richten, die in den verschiedensten Bereichen Fachkompetenz entwickeln – ob in der Städteplanung, der Energieversorgung, der Bildungspolitik, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften und so weiter. Sie scheren unter dem Druck der vielfältigen Krisen aus dem Mainstream aus oder richten zumindest ihre eigenen Wissenschaftsorganisationen oder Fachverbände neu aus. Schließlich leben wir in Gesellschaften mit geradezu explodierendem Wissenspotential, mit einem immer größeren Anteil an akademisch Gebildeten (in Deutschland 18 Prozent), unter denen es Zehntausende gibt, die wissen, dass die Anforderungen der Zukunft nur dann gelöst werden, wenn die fachspezifische Segmentierung durch Vernetzung, durch den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge und entsprechendes Handeln gelöst werden können. Das innovative Denken findet insofern bereits statt, es ist ein auf diversen Fachkompetenzen basierendes, aber auf gesellschaftliche Wirkung orientiertes, »eingreifendes Denken«, um den von Bertolt Brecht und Walter Benjamin geprägten Begriff zu benutzen. In gewisser Weise lässt sich hier an den Begriff des »spezifischen Intellektuellen« anknüpfen, den Foucault bereits frühzeitig gegenüber dem universalistischen Intellektuellen in Anschlag gebracht hatte, allerdings ohne die Brücke zu gesellschaftlichen Zusammenhängen oder ethischen Konzepten zu schlagen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie die »Intellektuellen von unten« (Lothar Peter) an eine größere Öffentlichkeit gelangen, da die bereits stattfindende Vernetzung oder auch die (limitierte) Öffentlichkeit des Internets wohl nicht ausreichend sind. Zu hoffen wäre, dass sich auch die traditionellen Medien öffnen, denn schließlich sind viele der diskutierten Themen (Krieg, Rüstung, Ressourcen, Wirtschaftskrisen, Bildungschancen et cetera) Überlebensfragen der Menschheit.

 

 

Jürgen Pelzer, Literatur- und Kulturwissenschaftler, Los Angeles, zzt. Athen.