Es gab eine Zeit, da berief man sich am besten nicht auf das Grundgesetz. Das war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als es um die deutsche Wiederbewaffnung ging. Davon stand nämlich nichts im Grundgesetz. Konrad Adenauer handelte grundgesetzwidrig, als er den Westmächten hinter dem Rücken des eigenen Kabinetts deutsche Streitkräfte anbot. An diesen Verfassungsbruch wollte er nicht ständig erinnert werden.
Als Gegner der Wiederbewaffnung musste man sich schon zusätzlich etwas einfallen lassen, so etwa, dass die Schöpfer des Grundgesetzes mit dem Verzicht auf deutsche Streitkräfte im Geiste des »anderen Deutschland« handelten, das sich im Widerstand gegen das Naziregime manifestiert hatte. Sie nahmen vorweg, was die UNO-Vollversammlung am 15. Dezember 1980 ohne Gegenstimmen bei 18 Enthaltungen über ihr eigenes Selbstverständnis in einer Resolution festhielt. Darin heißt es, die Vereinten Nationen seien »aus dem Kampf gegen Nazismus, Faschismus, Aggression und ausländische Besetzung hervorgegangen«. Zu Recht erinnert die Süddeutsche Zeitung vom 4./5. Mai 2019 daran, dass das Grundgesetz »stets die Antithese zur finsteren Nazivergangenheit« gewesen sei.
Nicht alle haben das so gesehen. Im Vorfeld der Beratungen über das Bekenntnis der UNO zum Antifaschismus wollte die CDU von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unter Helmut Schmidt wissen, ob sie »den auf die Interpretation von Artikel 139 als Fundamentalnorm des gesamten Grundgesetzes gestützten Vorstellungen vom antifaschistischen Charakter des Grundgesetzes« zustimme. »Nein«, antwortete die Regierung schmallippig, ohne auf die Argumentation der CDU einzugehen.
Der Artikel 139 des Grundgesetzes hat die Zeiten überdauert. Unverändert, so wie in dem vergilbten Exemplar aus dem Jahr 1952, das seit Jahren auf meinem Schreibtisch liegt, steht er heute noch im Grundgesetz. Er ist nur drei Zeilen lang und lautet folgendermaßen: »Die zur ›Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‹ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Mit anderen Worten: Die im Verlaufe der Wiederbewaffnung erfolgte Renazifizierung des gesamten öffentlichen Lebens verstieß gegen den Geist des Grundgesetzes und entsprach nicht den Intentionen der Urheber unserer Verfassung. Aber wie sagte doch der christlich-soziale Bundesinnenminister Hermann Höcherl, Mitglied der NSDAP von 1935 bis 1945, als seine Leute illegal die Telefone von Bundestagsabgeordneten abgehört hatten und dabei erwischt worden waren? »Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen.«
Dem Bundesverfassungsgericht wird man eine solche Lässigkeit schwerlich vorwerfen können, aber es hält eine Partei, die »eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus« aufweist und eine »antisemitische Grundhaltung« hat, gleichwohl für ungefährlich. Es lehnte 2017 ein Verbot dieser Partei – gemeint war die NPD – deswegen ab. Acht Monate später zog die AfD in Kompaniestärke in den Deutschen Bundestag ein. Seither macht das Wort vom Rechtsruck die Runde. Wie das Kaninchen auf die Schlange starren die staatstragenden Parteien auf die bevorstehenden Wahlen. Dabei haben sie selbst heraufbeschworen, was ihnen als Mühlstein jetzt um den Hals hängt.
70 Jahre Grundgesetz. Seit 70 Jahren steht dort, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, aber noch immer verdienen Frauen weniger als Männer. »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« steht seit 70 Jahren im Grundgesetz, jetzt treibt es Schulkinder zu Demonstrationen für ein besseres Klima auf die Straße, weil sie das Geschwätz und die leeren Versprechungen der Erwachsenen nicht mehr ertragen. Mir geht es ähnlich. »Der Worte sind genug gewechselt,/lasst mich auch endlich Taten sehn!/Indes ihr Komplimente drechselt,/kann etwas Nützliches geschehn.« (Goethe: »Faust«)