Populisten und das schwindende Vertrauen der Bürger seien schuld an der Europakrise, sagte CDU-Veteran Wolfgang Schäuble bei einer Veranstaltung in Karlsruhe. Das ist genauso erhellend, als würde ein Arzt dem Patienten erklären, seine Krankheit rühre von seinem roten Rachen und den Halsschmerzen her. Gibt es bessere Diagnosen für die Krankheit der EU?
Beginnen wir mit einem kleinen Test. Wie stehen Sie zu folgenden Statements: a) Politiker müssen sich nach dem Willen des Volkes richten. b) Das Volk sollte die wichtigsten politischen Entscheidungen fällen. c) Die spezifischen Interessen der politischen Klasse haben negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Volkes. Nun? Sollten Sie dazu neigen, diesen Aussagen aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung zuzustimmen, dann sind Sie ein Populist. Nur wenn Sie sie strikt ablehnen, können Sie sich als guter Demokrat fühlen. Am besten distanzieren Sie sich auch gleich vom Art. 20 des Grundgesetzes: Sollten Sie nämlich Souveränität des Volkes fordern, erweisen Sie sich keineswegs als verfassungstreuer Demokrat, sondern vollends als Populist. Zumindest nach der groß angelegten Umfrage der Bertelsmann Stiftung, die sie in zwölf EU-Staaten bei fast 24.000 EU-BürgerInnen durchgeführt hat. Titel: »Europa hat die Wahl« (kann im Internet heruntergeladen werden).
Die Wahl zum EU-Parlament steht bevor, und der Wahlkampf tobt recht populistisch – da kommt die Bertelsmann-Handreichung den Parteien, die bisher die Politik der EU bestimmt haben (in der Studie »etablierte« genannt) gerade recht. Denn sie werden von Ängsten getrieben: der Angst vor geringer Wahlbeteiligung und dem Erstarken der »Populisten von rechts und links«. Befragt hat die Stiftung vorsorglich vor allem die EU-Stammländer im Westen, während die armen östlichen Länder, in denen EU-Enttäuschung vorherrscht und deshalb ohnehin nur wenige Menschen zur Wahl gehen (im Jahr 2014 zum Beispiel in der Slowakei 13 Prozent, in Tschechien 18 Prozent, in Ungarn 29 Prozent), nicht gefragt waren.
Immerhin deckt die Studie interessante Zusammenhänge auf. Die Identifikation der WählerInnen mit den »etablierten Parteien« ist auf minimale Werte von vier bis sechs Prozent gesunken. Das Wahlverhalten wird von »negativen Parteiidentitäten« mit einem Durchschnittswert von 49 Prozent bestimmt. Die BürgerInnen wissen klar, was sie nicht wollen, sie identifizieren sich mit Parteien über Ablehnung. Deshalb will die umfangreiche Untersuchung die »EU-freundlichen demokratischen Parteien des gemäßigten Meinungsspektrums« gegen die »demokratie- und europakritischen Parteien der links- und rechtspopulistischen Ränder« stärken (S. 6). Als müsse man sich für die real existierende EU entscheiden, um Nationalismus und Rechtsextremismus abzuwehren. Und wenn diese gerade durch die EU verursacht sind? Diesen Zusammenhang will Bertelsmann nicht sehen und rät zu größeren Zusammenschlüssen der Etablierten gegen Populisten. Sollten die bisher dominierenden Parteien ihre Politik überprüfen oder ändern? Mitnichten. Das »Repräsentationsgefühl« der WählerInnen müsse verbessert werden. Denn die Populisten »münzen empfundene Repräsentationsdefizite« in Systemkritik gegen das demokratische System der EU um.
Die Stiftung führt auch vor, wie Forderungen zu zentralen politischen Themen in Wahlmöglichkeiten zwischen Scheinalternativen umgewandelt werden können. Eine Frage in der Studie lautet nicht etwa, ob Konzerne gerecht besteuert werden müssten und Steuerflucht der Reichen zu verhindern sei; sie lässt vielmehr nur die Alternative zwischen Erhöhung oder Verminderung der Sozialausgaben in der EU. Entscheiden sollen die BürgerInnen nicht etwa über weltweite Militäreinsätze und EU-Aufrüstung; sie dürfen nur darüber nachdenken, ob die militärische Zusammenarbeit in der EU verstärkt oder vermindert werden sollte. Echte Alternativen sollen gar nicht erst in den Sinn kommen.
So entsteht ein ideologisches, manipulatives Konglomerat im Dienste der etablierten Parteien – als denjenigen, die den desolaten, demokratiefeindlichen Zustand der EU bewirken und damit Enttäuschung und Widerstand hervorrufen. Leider tragen andere Institutionen ebenfalls zur Vernebelung bei – Institutionen, die einen wissenschaftlichen Ruf zu verlieren haben. Wenn die Universität Leipzig ihre »Mitte-Studien« für die Friedrich-Ebert-Stiftung mit der Langzeitstudie »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« verknüpft, sind die Erwartungen hoch. »Verlorene Mitte – Feindselige Zustände« über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland enthält allerdings einige befremdliche Ungenauigkeiten, die zu irreführenden Ergebnissen führen müssen.
Ein Beispiel sind die Fragestellungen und Aussagen zur »Verschwörungsmentalität« (siehe auch Beitrag von Ulla Jelpke, S. 350). Von kritischen WissenschaftlerInnen sollte man erwarten können, dass sie die unzähligen Belege für den Einfluss wirtschaftlicher Macht und für das geheime Wirken Tausender Konzernlobbyisten in Berlin und Brüssel kennen, aber auch die manipulative Einseitigkeit von Teilen der Presse und des Fernsehens zugunsten neoliberaler oder militaristischer Politik. Gerade hat die gemeinnützige Initiative LobbyControl veröffentlicht, dass etwa 25.000 Lobbyisten in Brüssel Einfluss auf die EU-Institutionen nehmen. Sie können »Gesetze und politische Prozesse regelrecht kapern«, sagt die Geschäftsführerin. Durch die Machenschaften von Konzernen und Reichen entgingen den EU-Ländern jährlich 50 bis 70 Milliarden Euro. Verschwörungstheorie?
Die Mitte-Studie präsentiert Ergebnisse, die die etablierten Parteien – die ja »die Mitte« repräsentieren wollen – zum Nachdenken bewegen könnten. Zeigt sie doch, dass in Deutschland das Ausmaß feindseliger Haltung gegenüber Muslimen, Juden und Wohnungslosen ebenso auf hohem Niveau stabil bleibt wie das von rassistischen und sexistischen Hasstaten. Dieser Hass nimmt keineswegs ab, wenn die Zahl der Migranten und Flüchtlinge zurückgeht; er wird vielmehr generalisiert, das heißt er trifft alle, die als »Andere« etikettiert werden, wie einer der Leiter der Studie, Andreas Zick, ausführt. Doch das wollen manche nicht wissen.
Sofort haben gerade die Politiker scharfe Kritik geäußert, die mit ihrer Politik der Förderung von sozialer Ungleichheit und Ungleichwertigkeit die Hauptverantwortung für Ressentiments und Demokratieskepsis tragen: Der ehemalige SPD-Chef Gabriel bestreitet einfach mal (in der Bild-Zeitung) die Anfälligkeit der Mitte für rechte bis rechtsextreme Einstellungen, während der CDU-Ministerpräsident Laschet sich gleich gegen die Studie generell ausspricht: Beide Politiker bekämpfen die schlechte Nachricht statt der Ursachen der Rechtsentwicklung.
Allerdings könnte die Mitte-Studie an Aussagekraft noch gewinnen, würde sie die Rechtsverschiebung gesellschaftlicher Normen durch neoliberale Politik, durch die Bewertung von Menschen nach ihrer marktgerechten Nützlichkeit und Verwertbarkeit sowie durch die politische Machtlosigkeit der Menschen unter die Lupe nehmen und benennen. Wie fasste doch der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer die Ergebnisse einer Vorgängerstudie über »Deutsche Zustände« schon 2012 zusammen? »Die geballte Wucht, mit der die Eliten einen rabiaten Klassenkampf von oben inszenieren, und die Transmission der sozialen Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle wähnt und deshalb schwache Gruppen ostentativ abwertet, zeigen, dass eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist.« Das gilt heute mehr denn je.