Erst kurz vor Mitternacht stand am Wahltag, dem 28. April, das Endergebnis der Wahl zum spanischen Parlament fest. Eindeutiger Gewinner ist Pedro Sánchez mit der Partido Socialista Obrero Español (PSOE). Die Partei erlebte mit 123 Sitzen – das sind 28,7 Prozent der Stimmen – eine Auferstehung.
Der Weg von Pedro Sánchez zum spanischen Ministerpräsidenten begann im Anschluss an die Europawahl 2014, als Alfredo Pérez Rubalcaba seinen Rücktritt als PSOE-Generalsekretär erklärte und Sánchez kandidierte. In der Vorwahl durch die Parteibasis setzte er sich im Juli 2014 mit 49 Prozent der Stimmen gegen Eduardo Madina (36 Prozent) und José Antonio Peréz Tapias (15 Prozent) durch. Bei der Parlamentswahl 2015 trat Sánchez gegen den Amtsinhaber Mariano Rajoy von der Partido Popular (PP) an. Diese Wahl leitete das Ende des spanischen Zweiparteiensystems ein. Rajoy teilte dem König Felipe VI. auf Grund fehlender Unterstützung anderer Parteien mit, dass er als Ministerpräsident nicht zur Verfügung stehe. Darauf schlug Felipe VI. am 2. Februar 2016 dem Parlament Sánchez als Ministerpräsidenten vor. Sánchez‘ Verhandlungen mit der linken Podemos blieben erfolglos, nur mit den bürgerlichen Ciudadanos konnte er ein Abkommen erreichen. Im ersten Wahlgang am 2. März 2016 bekam er nur die 130 Stimmen der PSOE und Ciudadanos bei 219 Gegenstimmen und einer Enthaltung. Im zweiten Wahlgang zwei Tage später erhielt er eine zusätzliche Stimme von der Regionalpartei Coalición Canaria.
Nach dem erneuten Scheitern kam es am 26. Juni 2016 zur Neuwahl. Mariano Rajoy legte mit seiner PP zu. Nur: Keine Partei wollte mit der korruptionsbelasteten PP zusammenarbeiten. Der nach wie vor geschäftsführende Ministerpräsident Rajoy stellte sich am 31. August und 2. September zur Wahl und verlor trotz Unterstützung der oppositionellen Ciudadanos beide Wahlgänge mit 170 Ja- zu 180 Nein-Stimmen. Eine Neuwahl wurde wahrscheinlich.
Nach einem schlechten Abschneiden der PSOE bei den Regionalwahlen im Baskenland (Euskadi) und in Galicien (Galicia) am 25. September 2016 verstärkte sich die innerparteiliche Kritik an Sánchez‘ Haltung, auf keinen Fall mit Rajoy zusammenzuarbeiten. 17 Mitglieder des Parteivorstands erklärten ihren Rücktritt. Auf der Sitzung des Parteirats am 1. Oktober 2016 musste Sánchez wegen seines Anti-Rajoy-Kurses eine Abstimmungsniederlage einstecken, trat sofort zurück und legte sein Abgeordnetenmandat nieder.
Im Februar 2017 kündigte Sánchez seine neuerliche Kandidatur für den zu wählenden PSOE-Vorsitz an. Gegen seine Kandidatur stellte sich der ehemalige Ministerpräsident Felipe Gonzáles, der bereits früh eine Große Koalition gefordert hatte. Bei der Urwahl am 21. Mai 2017 wurde der besonders an der Parteibasis beliebte Sánchez gegen die Regierungschefin von Andalusien, Susanna Díaz, und den Regierungschef des Baskenlandes, Patxi López, mit 74.805 von 148.937 Stimmen gewählt.
Am 1. Juni 2018 wurde Pedro Sánchez per Misstrauensvotum – erstmals in der Geschichte des spanischen Parlamentarismus – zum Ministerpräsidenten von Spanien gewählt. Für Sánchez stimmten von den 350 Abgeordneten 180. Die PSOE verfügte nur über 84 Parlamentssitze. Sánchez‘ Minderheitsregierung war auf die Duldung durch Unidos Podemos, die Partido Nacionalista Vasco und die katalanischen Parteien Junts per Catalunya und Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) angewiesen. Im Gegensatz zu Rajoy suchte Sánchez das Gespräch mit der katalanischen Regionalregierung von Quim Torra von der Junts per Catalunya, die auf Angebote aus Madrid nicht reagierte.
Am 12. Februar 2019 begann der politische Strafprozess gegen zwölf ehemalige katalanische Regionalminister und Aktivisten. Einen Tag später stimmten im spanischen Parlament die katalanischen Parteien Junts per Catalunya und ERC gemeinsam mit der Opposition von PP und Ciudadanos gegen den Haushaltsentwurf der geduldeten PSOE-Minderheitsregierung. Am 15. Februar kündigte Sánchez vorgezogene Neuwahlen für den 28. April an.
Als sich am Wahlabend der Sieg der PSOE abzeichnete, waren vor der PP-Zentrale in der Calle de Génova in Madrid längst die Scheinwerfer abgebaut, die den Betonklotz zuvor hoffnungsvoll in blauem Licht hatten erstrahlen lassen, der Farbe der konservativen Partei. Auch blieb der Balkon leer, denn es gab nichts zu bejubeln. Der junge und dynamische Parteivorsitzende Pablo Casado verkündete seine Wahlniederlage im PP-Pressesaal. Dabei hatte er gemeinsam mit der bürgerlichen Ciudadanos und der rechtspopulistischen VOX-Partei den Sieg über Pedro Sánchez versprochen. Der Tag wurde für den 38 Jahre alten Politiker der Partido Popular, die statt mit 137 jetzt nur noch mit 66 Abgeordneten in Parlament sitzt, ein Desaster. Selbst die bisherigen PP-Hochburgen in Galicien, Kastilien und Madrid gingen verloren. Am Morgen des 29. April ist die spanische Landkarte in rot getaucht.
Der PP-Vorsitzende Casado hatte im Wahlkampf versucht, seinen sozialistischen Gegner als »Verräter« zu diskreditieren, und für den Fall, dass die PSOE gewinnen sollte, das Ende Spaniens vorausgesagt. Nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden hatte Pablo Casado die PP nach rechts gerückt. Von dem einst moderaten und pragmatischen Kurs seines Vorgängers Rajoy war nichts übriggeblieben. Trotz des Rechtsrucks sind viele Wähler der Partido Popular bei der jüngsten Wahl zu VOX abgewandert.
Der Baske Santiago Abascal, geboren am 14. April 1976 in Bilbao, begann seine politische Karriere als Mitglied der Partido Popular, gründete 2014 die VOX-Partei, deren Vorsitzender er noch immer ist. Die Rechtspartei bekam bei der Wahl am 28. April weniger Stimmen als erwartet – auch wenn die Zahlen beachtlich sind. Rund zweieinhalb Millionen Spanier wählten die Partei, die nun mit 24 Abgeordneten ins neue Parlament in Madrid einzieht. Bei der Wahl 2016 hatte die Vox nur 47.000 Wähler. Nun hofft Abascal auf die Europawahl und die gleichfalls Ende Mai anstehenden spanischen Kommunal- und Regionalwahlen. Seit den Regionalwahlen in Andalusien im Dezember 2018 ist die Partei offenbar auf dem Weg »der christliche Rückeroberung Spaniens« und dem Sieg der katholischen Könige über die muslimischen Mauren. Denn bei Abascal heißt das die neue »Reconquista Spaniens«.
Partido Popular, Ciudadanos und VOX setzten im Wahlkampf auf den Katalonien-Konflikt und forderten eine Politik der harten Hand gegenüber den katalanischen Separatisten. Damit sollten die Spanier zur Stimmabgabe für die drei rechten Parteien mobilisiert werden, was nicht gelang. PP, Ciudadanos und VOX jagten sich gegenseitig die Wähler ab. Mit ihren 147 Mandaten sind die drei Parteien weit von der absoluten Mehrheit entfernt, die liegt bei 176 Sitzen. Die Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS hatten vor der Wahl ergeben, dass den Wählern vor allem die Arbeitslosigkeit und Korruption große Sorgen bereiten, der katalanische Separatismus und die illegale Migration hingegen nur einen sehr geringen Stellenwert haben.
Casado bemühte sich nach Kräften, die korrupte Vergangenheit seiner Partido Popular zu überwinden. Aber im Land haben viele Spanier nicht vergessen, dass es Mariano Rajoy war, der nach einem vernichtenden Urteil im »Gürtel«-Korruptionsprozess am 1. Juni 2018 durch ein Misstrauensvotum aus der Regierung vertrieben wurde. Das ist auch ein Grund, warum zahlreiche ehemalige PP-Wähler am 28. April bei der rechtsliberalen Ciudadanos-Partei ihr Kreuz machten. Diese Partei war vor 13 Jahren als Reaktion auf die grassierende Korruption der PP und den erstarkenden katalanischen Nationalismus gegründet worden. Auch wenn das rechte Bündnis nicht gewann, tritt der Ciudadanos-Vorsitzende Albert Rivera nach der Wahl wie ein Sieger auf. Mit 57 Sitzen erzielte die Partei ihr bisher bestes Ergebnis. Dabei hatte Rivera bei der Wahl am 28. April die PP überholen wollen. Das gelang nicht, aber der spanische Rechtsanwalt Albert Rivera machte deutlich, dass er jetzt der Führer der rechten Opposition sei: »… eher früher als später werden wir Spanien regieren«. Die spanische konservative spanische Tageszeitung El Mundo schlug in einem Leitartikel vor, um der Stabilität Spaniens willen sollten PSOE und Ciudadanos eine gemeinsame moderate Regierung in Betracht ziehen. Daraus wird wohl nichts.
Trotz seines Erfolgs hat Pedro Sánchez keine eigene Mehrheit. Als Koalitionspartner steht die linksalternative Podemos-Partei zusammen mit ihrem katalanischen Ableger bereit, sie kommt auf 42 Mandate. Zur absoluten Mehrheit fehlen dann noch elf Stimmen, die müsste sich Sánchez bei den kleinen Regionalparteien suchen, so bei der baskischen PNV mit ihren sechs Abgeordneten. Dann fehlen noch immer fünf Stimmen bis zur absoluten Mehrheit.
In Katalonien gewann das erste Mal die linksrepublikanische Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) mit 15 Mandaten die Wahl. Die bisher in Katalonien führende Junts per Catalunya des nach Belgien geflohenen früheren Regionalpräsidenten Carles Puigdemont stellt nur noch sieben Abgeordnete. Der Vorsitzende der ERC, Oriol Junqueras, steht in Madrid wegen Rebellion vor Gericht. Er verfolgt einen moderateren Kurs als die Anhänger Puigdemonts. Sánchez müsste nicht formell mit der ERC zusammenarbeiten, schon deren Enthaltung könnte ihm bei seiner Wahl im Parlament helfen. Im zweiten Wahlgang genügt die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Nach der Europawahl werden wir sehen, wie Pedro Sánchez den Gordische Knoten gelöst.
In der zweiten Kammer, dem Senat mit seinen 266 Sitzen, hat die PSOE mit 139 Sitzen die Mehrheit – Partido Popular, Ciudadanos und VOX haben gemeinsam nur 86 Sitze.