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Quarantäne als Sippenhaft  (Ulla Jelpke)

Das Coronavirus sei ein »Gleichmacher«, der unterschiedslos Arme wie Reiche, Mehrheiten und Minderheiten treffe. Das besagt eine derzeit beliebte Erzählung. Das Gegenteil ist der Fall: In Wirklichkeit verschärft die Pandemie die bestehenden Ungleichheiten und trifft vor allem Angehörige verletzbarer, marginalisierter und entrechteter Minderheiten. In Europa sind besonders Roma betroffen.

 

Zahlreiche Vertreter der Minderheit in mehreren Ländern machen seit Wochen auf das Problem aufmerksam. Zum einen seien Roma aufgrund massiver struktureller Schlechterstellung in ihren Wohn- und Lebensverhältnissen ohnehin besonders durch das Virus gefährdet. Zum anderen gebe es in zahlreichen Ländern, insbesondere in Süd- und Südosteuropa, eine Radikalisierung antiziganistischer Einstellungen und Maßnahmen.

 

Wie sehr die Einschätzung zutrifft, zeigt sich in Bulgarien. Dort werden für die Verbreitung der Seuche Personen verantwortlich gemacht, die nach Ausbruch der Pandemie aus Westeuropa zurückgekehrt sind, weil sie ihre Arbeit dort verloren haben. Genauer: Den Roma unter den Rückkehrern wird vorgeworfen, das Virus »eingeschleppt« zu haben und die Quarantänebestimmungen zu missachten. Der letztere Vorwurf trifft zum Teil zu, was Sozialarbeiter im Land auch auf die schlechte Informationspolitik der Behörden zurückführen. Quarantäneverletzer gibt es aber auch unter Nicht-Roma, was von den Behörden nicht weiter beachtet wird. Gegenüber den Roma reagieren sie jedoch drastisch: Im April wurden mindestens drei Roma-Siedlungen in den Städten Sofia und Peshtera mit insgesamt 50.000 Einwohnern komplett unter Quarantäne gestellt. Quarantäneverletzungen durch Nicht-Roma sind bislang noch nie durch die Abriegelung ganzer Wohnviertel mit Tausenden Unbeteiligten sanktioniert worden. Es geht bei der Maßnahme also nicht um Schutz, sondern um Stigmatisierung.

 

Die Quarantäne wird von Polizeikräften bewacht. Das Verlassen der Viertel ist nur nach Ausweiskontrolle und Nachweis eines wichtigen Grundes gestattet – was die Bewohner letztlich der Willkür der Polizei ausliefert, die nach Berichten Betroffener öfter mal die Hand aufhält. Der Zugang zu Märkten und Ärzten ist erheblich erschwert; Apotheken gibt es längst nicht in allen Roma-Vierteln.

 

Vor allem rechtsextreme Politiker – deren Parteienbündnis »Vereinigte Patrioten« an der Regierung beteiligt ist – drohen ganz offen. »Haltet euch an die Regeln«, forderte der Bürgermeister des Ortes Straldscha die Roma-Gemeinschaft auf. »Nicht, dass sich jemand wundert, warum die Sozialhilfe fehlt, warum der Bagger in die illegale Baracke stürzt oder der gewünschte Wohnsitz plötzlich verwehrt wird.« Der Europaabgeordnete Angel Dschambaski bezeichnet Roma-Siedlungen als kollektive Gefahr für die Bevölkerung, weil sie ein »wahres Nest der Ansteckung« seien, und fordert, die angeblich von den Roma ausgehende Gefahr müsse »kontrolliert und eingedämmt« werden. Auch der (parteilose) Innenminister drohte bereits mit weiteren Abriegelungen, wenn Abstandsgebote nicht eingehalten werden.

 

Die Äußerungen machen deutlich: Roma sollen als Sündenbock für die Viruserkrankung herhalten.

 

In manchen Städten, etwa in Burgas, werden Drohnen eingesetzt, um aus der Ferne heraus die Körpertemperatur von Menschen zu messen, laut Amnesty International offenbar ausschließlich bei Roma. Die Organisation weist in einem Bericht von Mitte April darauf hin, dass die Quarantäne eines ganzen Wohnviertels in mindestens einem Fall damit begründet wurde, es gebe dort keine Wasserversorgung und kaum sanitäre Anlagen, so dass die Einwohner die Hygieneregeln nicht einhalten könnten. Anstatt Anstrengungen zu unternehmen, die strukturelle Diskriminierung endlich zu beseitigen und beispielsweise Wasserleitungen zu legen oder Tankwagen und Toiletten bereitzustellen, wird die prekäre Situation der Roma zynischer Weise zum »Argument« für ihre verschärfte Diskriminierung.

 

In Bulgarien ist die offene Diskriminierung der Roma anscheinend besonders stark, aber ähnliche Berichte gibt es auch aus anderen Ländern. Aus Nordmazedonien etwa berichtet das European Roma Rights Centre, dass im März aus einer 200-köpfigen Gruppe von Rückkehrern aus Österreich und Italien allein die neun Mitglieder einer Roma-Musikergruppe herausgenommen worden seien, um sie in einer Kaserne in Quarantäne zu halten. Alle anderen hätten lediglich eine Erklärung unterschreiben müssen, sich selbst zu isolieren. In der Slowakei werden stigmatisierende Virentests an Roma durchgeführt, teils von der Armee, und fünf Siedlungen von Roma stehen auch dort unter Quarantäne. Wie auch in Bulgarien sind die repressiven Maßnahmen von keinem Plan begleitet, wie man infizierte Personen adäquat behandelt oder ihre Umgebung vor Ansteckung schützt oder eine Versorgung der betroffenen Viertel mit sauberem Wasser, Sanitäranlagen und Hygienemitteln garantiert. Regierungschef Igor Matovič ließ sich lediglich zu der Äußerung herab, die Mehrheitsbevölkerung wäre bedroht, wenn die Roma aus ihren Siedlungen »herauskriechen«. Auch in Rumänien sind mehrere Roma-Viertel abgeriegelt worden.

 

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und mehrere Roma-Organisationen aus den Balkanstaaten warnen in einer gemeinsamen Erklärung vor einer Zunahme antiziganistischer Gewalt. Die Sorge wird auch von der EU-Kommissarin für Gleichheitspolitik, Helena Dalli, und der Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, geteilt. Gemeinsam verurteilten beide Anfang April den Anstieg von Hassreden im Internet und Fake News, die sich gegen Roma richten. Es gelte zu »verhindern, dass nationale oder ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, in der aktuellen Krise zu Sündenböcken werden«.

 

Die Lebenssituation zahlreicher Roma prädestiniert sie, dem Virus zum Opfer zu fallen: Für Hunderttausende von ihnen sind Maßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen illusorisch, weil sie im Haus kein Leitungswasser haben. Aufrufe zum »Abstandhalten« sind angesichts beengter Wohnverhältnisse und fehlender Freiflächen in den Vierteln – und bei Ausgangssperre – wirkungslos. In der Krise verschärft sich ihre Lage weiter, da viele ihre Einkommensmöglichkeiten verloren haben. Vom regulären Arbeitsmarkt sind die meisten Roma ausgeschlossen. Doch Tagelöhner werden derzeit weniger gebraucht, und Tätigkeiten wie das Sammeln von Altmetall, Handel mit Gegenständen des Alltagsbedarfs oder Sammeln und Verkauf von Kräutern sind unterbunden, weil Märkte geschlossen sind und eine strikte Ausgangssperre herrscht. Auch der Weg nach Westeuropa, um sich dort mit Tagelöhnerei, Musizieren oder schlicht Betteln durchzuschlagen, ist derzeit abgeschnitten.

 

Reserven, um den Lockdown zu überstehen, stehen vielen Roma nicht zur Verfügung, so dass jetzt bereits der Kauf von Seife, geschweige denn von Mundschutz, für viele einen kaum erschwinglichen Luxus darstellt. All diese Faktoren führen dazu, dass für Roma eine erhöhte Gefahr der Verbreitung des Virus besteht – bei weit weniger Möglichkeiten, sich im Krankheitsfall medizinisch versorgen zu lassen.

 

Sozialarbeiter beziehungsweise Mediatoren, die als Kontaktstelle zwischen Roma-Gemeinschaften und Behörden fungieren, bemühen sich, humanitäre Hilfe zu leisten und Spenden zu sammeln, warnen aber vor einer drohenden Hungersnot.

 

Auch die langfristigen Folgen der Ausgangseinschränkungen dürften Roma zumindest in Süd- und Osteuropa härter treffen als die Mehrheitsgesellschaften. Schulen sind geschlossen, ebenso Lern- und Nachhilfezentren. Unterricht per Internet ist ihnen mangels Computern und Internetzugang kaum möglich. In manchen Ländern, wie Serbien und Nordmazedonien, wird übers Fernsehen »unterrichtet«, was zwar leichter zugänglich ist, aber in überfüllten Einraumwohnungen auch wenig effektiv. In ihrem gemeinsamen Papier warnen die Roma-Organisationen, man müsse »in naher Zukunft mit hohen Abbrecherquoten und Zehntausenden von Kindern rechnen, die in den Schulen den Anschluss verlieren«.

 

Die Organisationen fordern von den nationalen Regierungen und der EU, schnellstmöglich in allen Roma-Siedlungen Lebensmittel, sauberes Wasser und grundlegende Mittel für Hygiene und Gesundheitsschutz zur Verfügung zu stellen. Auch ein diskriminierungsfreier Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Entwicklung langfristiger Programme zur Wohnungs- und Infrastrukturentwicklung seien erforderlich.

 

Ob sie erhört werden, ist fraglich. Die Europäische Union stellt zwar Mittel für Soforthilfen zur Verfügung, hat aber die Lage der Roma bislang nicht im Blick. Zugleich stellt die Kommission in einem unveröffentlichten Bericht Überlegungen an, die bestehenden Programme zur Integration von Roma auf das nächste Jahr zu verschieben, »bis die normalen Geschäfte wieder aufgenommen werden können«. Bis dahin wird die Lage der Roma aber noch weit schlechter sein als heute – Gegensteuern ist also höchst dringlich.