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Titel1020

Homeoffice-Tagebuch (IV)  (Rüdiger Göbel)

25.4.: Grândola Vila Morena

Die erste Woche Homeschooling nach den Osterferien ist durch, die Nerven liegen blank. Meine Tochter sitzt am Abend heulend neben mir. »Ich will wieder in die Schule. Ich will wieder in die Schule«, wimmert sie immer wieder. Sie hat festgestellt, dass sie ihre Französisch-Aufgaben vergessen hat, lässt sich durch nichts beruhigen, dass sie die noch nachtragen kann. Es ist auch nur der Anlass. Ihr fehlt das Miteinander, das Zusammensein. Zoom und Skype ersetzen eben nicht die Klassengemeinschaft und Eltern im Homeoffice keine aufmerksamen Lehrkräfte und ausgebildeten Pädagogen.

 

Aufmunterung kommt aus Portugal. Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte des Notfalldienstes in der Klinik São José im Herzen Lissabons singen das Kampflied »Grândola Vila Morena«, eine wunderbare Botschaft der Solidarität, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doris Pumphrey von der Berliner Friedenskoordination macht auf das bewegende kulturelle Highlight im vereinten Widerstand gegen Corona aufmerksam (https://kurzlink.de/GrandolaVilaMorena) und erinnert: »Portugal, in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1974: Das Lied ›Grândola Vila Morena‹ ertönt zweimal hintereinander im katholischen Rundfunksender Rádio Renascença. Es ist das verabredete Signal zum Aufstand. Auf ihren Panzern verlassen Soldaten die Kasernen und besetzen die Schaltstellen der Macht. Auf den Straßen Lissabons werden sie jubelnd von der Bevölkerung begrüßt, die ihre Uniformen und Gewehre mit Nelken schmückt. Die ›Nelkenrevolution‹ beendet in Portugal die faschistische Diktatur. Die Hymne der Nelkenrevolution ist seitdem das berühmteste Kampflied in Portugal.« Was mögen die tapferen Klinikbeschäftigten dort bloß denken, wenn sie von sogenannten Hygiene-Demos in Berlin hören, bei denen die Corona-Pandemie als Fake bezeichnet und staatliche Abwehrmaßnahmen als faschistisch etikettiert werden …

 

 

28.4.: AKK auf Minderjährigenfang

Die Bundeswehr geht mit Covid-19 bei Minderjährigen auf Rekrutenfang. Mein ältester Sohn (16) bekommt ungefragt und ungebeten eine Postkarte mit Tarnfleck. »Wir kämpfen gegen Corona«, heißt es da. Auf der Vorderseite mit einem Namensschild auf dem Kampfanzug ist sein Nachname aufgedruckt. Auf der Rückseite wird er zum VIP erklärt, zur »Very Important Person«: »Hi«, kumpelt ihn da die PR-Abteilung von Annegret Kramp-Karrenbauer an, »bestimmt hast du die aktuelle Situation um das Covid-19-Virus intensiv verfolgt. Gerade in dieser schwierigen Zeit unterstützt die Bundeswehr mit ihren Frauen und Männern in Uniform und in Zivil die deutsche Bevölkerung mit allen Kräften. Mach dir selbst ein Bild von den vielfältigen Aufgaben in den Streitkräften – zum Beispiel im freiwilligen Wehrdienst …« Insgesamt sollen 680.000 solcher Werbekärtchen an Jugendliche verschickt worden sein. Die Bundeswehr lässt sich die Aktion Presseberichten zufolge über eine Viertelmillion Euro kosten. Die Adressdaten hat sie von den kommunalen Meldebehörden bekommen. Die übermitteln jährlich Name, Vorname und Anschrift aller Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die im nächsten Jahr volljährig werden, an das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr, sofern man vorab nicht widersprochen hat – wovon freilich 99,99 Prozent nichts wissen dürften (siehe Beitrag von Ekkehard Lentz in Ossietzky 6/2018). Bei der abendlichen Corona-Sondersendung im Ersten fragen wir uns, warum wirbt eigentlich nicht der Gesundheitsminister so offensiv für sinnvolle und gesellschaftlich wichtige Aufgaben?

 

 

30.4.: Totalausfall für Konzerte

Ticketmaster macht per E-Mail auf die Absage des Musikfests Lollapalooza Berlin 2020 aufmerksam. Die Großveranstaltung sollte Anfang September im und um das Olympiastadion stattfinden. Die Kinder hatten sich riesig auf die Draußenkonzerte mit ihren Stars gefreut. Meine Begeisterung für die popkulturelle Kommerzveranstaltung hatte sich von Anfang an in Grenzen gehalten, auch mit Blick auf die stolzen Eintrittspreise. Die Ticketkosten sollen erstattet werden. Von Nachfragen diesbezüglich bittet man abzusehen …

 

Ob Kommerz- oder Subkultur, bundesweit fallen tausende Konzerte ins Wasser, Festivals wie die »Fusion« in Mecklenburg-Vorpommern, auf das mein Ältester wollte, aber auch kleine Aufführungen wie die der Schulband meiner Tochter beim Sommerfest, das selbstredend nicht stattfinden wird. In der Klassiksparte rechnen namhafte Veranstalter mit mindestens zwei Jahren, bis sich das Genre vom Lockdown erholt hat, wenn überhaupt, ziehen die Aufführungen in der Regel doch eher älteres Publikum an, das zur Covid-19-Risikogruppe gehört und entsprechend verunsichert ist.

 

 

4.5.: Revolutionärer Komponist

Im Musikunterricht meiner Tochter ist passend zum 250. Geburtstag Beethoven angesagt. Sinnigerweise verweist die Lehrerin auf eine interaktive Begegnung mit dem Komponisten, die das Beethoven-Haus in Bonn für Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 13 entwickelt hat (https://hallo.beethoven.de). Verschiedene Themenfelder erschließen die Lebenswelt des Notenbauers. Zur französischen Revolution heißt es da kindgerecht: »1789 gibt es in Frankreich einen Umsturz: Das Volk ist unzufrieden, entmachtet den König und übernimmt die Herrschaft. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollen von jetzt an für alle gelten. Gleiche Rechte für jeden – das ist völlig neu. Diese Ideen beflügeln viele, auch außerhalb Frankreichs.« Auch Beethoven. Ein unterhaltsamer Multiple-Choice-Test rundet die Seite ab. Meine Tochter ist begeistert bei der Sache. Ich selbst belohne mich mit »Beethoven. 100 Seiten« von Stefan Siegert. Das schmale Büchlein, erschienen bei Reclam, vereint die Schaffens- und Lebenslinien des Künstlers. Er ist ein Kind der Revolution, das mit seiner Musik ganz neue Wege eingeschlagen hat. »Was immer der mit einem Minimum an Bildung ins geistige Leben gestartete Beethoven von Kant, dem Philosophen der Aufklärung, gelesen und verstanden hat: Radikal wie wenige seiner Zeitgenossen beginnt er, dessen Kerngedanken zu leben: Der Mensch ist kein ›Geschöpf‹ mehr, sondern Prometheus‘ Kind, der kritisch sich selbst bewusste und reflektierende ›Schöpfer‹ seines Lebens. ›Der bestirnte Himmel über uns‹, schreibt der ältere Beethoven in eines seiner Konversationshefte, ›und das Sittengesetz in uns, Kant!!!‹« Beethoven ist ein revolutionärer Komponist in einer vom Epochenwechsel erschütterten Zeit, so Siegert. »Alles Hergebrachte im Hegel’schen Doppelsinn aufzuheben im noch Unbekannten, auch das ist für Beethoven Freiheit im Sinn der drei in der französischen Revolution formulierten Ziele einer solidarischen Menschheit. Beethoven erlebt ihre Uneinlösbarkeit in der politischen Realität seiner Zeit, er wird die Idee in der Musik verwirklichen.« Ein tolles, flottes wie prägnantes Buch, das hoffentlich viele Leser findet. Ich wünsche ihm den Einsatz im fächerübergreifenden Schulunterricht, ganz analog.