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Titel1020

Und plötzlich waren alle Deutsche  (Klaus Nilius)

Wie schon Saša Stanišićs »Herkunft« ist auch »Heimkehr ins Unbekannte – Unterwegs nach Palästina« von Lina Meruane »ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.«

 

Geboren wurde die Schriftstellerin 1970 in Santiago de Chile. 2000 zog sie nach New York, wo sie an der New York University Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. 2017 war sie Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.

 

Um 1915 herum war ihr Großvater nach Chile emigriert, wie zahlreiche andere Palästinenser jener Zeit, die nicht für das Osmanische Reich in den Krieg ziehen wollten. Sie ließen sich in Lateinamerika nieder, »konnten oder wollten nicht mehr zurückkehren, vergaßen sogar das arabische Wort für Rückkehr«. Meruanes Großeltern »fühlten sich schließlich als ganz normale Chilenen«. Sie liegen in einem Familiengrab in Santiago.

 

Die Welt als Flucht. Heute leben rund 700 000 Menschen palästinensischer Herkunft in Lateinamerika, die Hälfte davon in Chile, wie Meruanes engere Familie. Viele sind Nachkommen der ersten großen Fluchtwelle aus den Jahren 1947 bis 1949, der Zeit des ersten arabisch-israelischen Krieges. Die UN-Generalversammlung hatte im Herbst 1947 den Teilungsplan für Palästina angenommen, was jedoch nicht wie erhofft die Auseinandersetzungen zwischen den arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebietes Palästina beendete. Die unterschiedlichen Bezeichnungen für den Krieg sprechen Bände: Ist es für Israel auch heute noch der »Unabhängigkeitskrieg«, so ist es für die arabisch-palästinensische Seite »Die Katastrophe«. Die zweite große Fluchtwelle ergab sich 1967 als Folge des Sechstagekrieges und der Annexion palästinensischer Gebiete durch das siegreiche Israel.

 

1967 war es auch, als Meruanes Großvater versuchte, seine Geburtsstadt Beit Jala wiederzusehen, der Krieg aber diesen Wunsch zunichtemachte. Der Vater indes will keinen Fuß in die okkupierten Gebiete setzen: »Er hatte sich der Grenze nur genähert. Hatte einmal von Kairo aus seine schon alten Augen ostwärts gewandt und sie für einen Moment auf dem fernen Punkt ruhen lassen, wo Palästina liegen musste.« Und auch später, an der jordanischen Grenze, »hätte er sich nur dem Übergang nähern müssen, aber seine großen Füße versanken im Treibsand der Unschlüssigkeit«. Er wollte nicht »voll Argwohn behandelt, Fremder in einem Land genannt werden, das er als das seine betrachtet, denn dort steht noch immer sein Elternhaus«.

 

Aber das Palästinensische bleibt auch in der Ferne ein »Hintergrundgeräusch«, und wenn inzwischen auch in fremder Sprache gesprochen wird, spürt man »zwischen den Silben den Dorn des Geflüchteten, der diesen Status als Anspruch aufrechterhält«.

 

Und so macht sich Lina Meruane auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Dem verlorenen Land. Den verlorenen Mitgliedern der Familie. Auf die Suche nach der Herkunft. Es ist keine Rückkehr, »höchstens der Besuch eines Landes, in dem ich nie gewesen bin, von dem ich kein eigenes Bild habe … ein Zurückkehren anstelle eines anderen. Meines Großvaters. Meines Vaters.«

 

2011 ist es soweit. Meruane erhält eine Einladung und fährt ins heutige Israel, nach Beit Jala. Ihr Buch enthält im ersten Teil den Bericht von dieser Reise, ohne Kompromisse aus palästinensischer Sicht und mit Empathie für den palästinensischen Standpunkt geschrieben. Ihm schließt sich der 2019 verfasste Bericht über die zweite Reise an: beides Reportagen voller Reflexionen und essayistischer Einwürfe, deren bittere Erkenntnis in der Feststellung gipfelt, »dass ausgerechnet in Israel mehr als anderswo rassische, genetische, physiognomische Zuschreibungen Einzug in den Alltag der Menschen gehalten haben«.

 

Das ist kein »Melting Pot«, wie Stanišić den Vielvölkerstaat Jugoslawien seiner Kindheitstage nannte, der die Menschen befreit hat »von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion«. Hier sehen für die Besucherin die Sicherheitskräfte aus, »als wären es Zwillinge der Geheimpolizisten während der Diktatur in Chile«. Hier werden die Koffer peinlich genau durchsucht, hier gibt es schikanöse Verhöre an der Grenze und all den unzähligen Kontrollpunkten. Was Meruane sieht, sind »Siedlungen und ihre Überwachungskameras. Soldaten mit ihren Stiefeln, ihren grünen Uniformen, ihren Gewehren. Stacheldraht und Ruinen«.

 

Und Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Checkpoints. Aberhundert.

 

An einer dieser Kontrollstellen spielt sich während der zweiten Reise eine der surrealen, kafkaesken Szenen des Buches ab, die mehr sagt als tausend Worte. Eine Aktivistin aus Griechenland (»mit transparenter Haut«), ein Regisseur aus Ägypten (»jung, weiß«), zwei senegalesische Rapper (»der eine dunkler als der andere«), eine Spezialistin für indische Kunst und ihr indisch-kalifornischer Mann, ein deutscher Philosoph (»mit wildem rotem Haar«), Meruane (die chilenisch-palästinensische Schriftstellerin) sowie die palästinensische Kuratorin, die alle eingeladen hatte, eine palästinensische Historikerin, eine feministische Anthropologin aus Palästina, ein palästinensischer Fotograf und ein Journalist, »der gerade aus einem israelischen Gefängnis entlassen worden war«: Alle nähern sich in einem Kleinbus mit einheimischem Fahrer einem Checkpoint.

 

Die Autotür wird geöffnet, ein »blutjunger Soldat« steigt ein, »schlägt mit seinen klobigen Stiefeln gegen die Stufe, protzt mit seinem Gewehr und ruft etwas auf Hebräisch. Niemand versteht. Niemand antwortet.«

 

Als der Fahrer dem Soldaten mitteilt, alle seien Ausländer, brüllt dieser: »Where are you from?« Nun haben alle einen anderen Pass und die Palästinenser überhaupt keinen. Die Gruppe versinkt in den Polstern. Der Soldat wendet sich an den ganz vorne in der ersten Reihe sitzenden deutschen Philosophen, und dieser antwortet: »Germany«. Und als der Soldat nicht versteht, wiederholt er: »Gerrrrrmany.« Der Soldat lässt sich den Pass geben und fragt, ob alle »Germans« sind, und empor steigt aus dem Bus die Antwort: »We are all Germans.«

Die Fahrt darf weitergehen.

 

 

Lina Meruane: »Heimkehr ins Unbekannte – Unterwegs nach Palästina«, aus dem Spanischen von Susanne Lange, 208 Seiten, Berenberg Verlag, 24 €