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Titel1108

Staatsräson statt Völkerrecht  (Uwe-Jens Heuer)

Gregor Gysi, einer der beiden Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag, hielt in der Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Vortrag zum Thema »Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel«, den die Fraktion im Internet veröffentlichte. In den Medien fand er Beachtung und Zustimmung. Nach einigen Tagen sekundierten ihm Wolfgang Gehrcke (Bundestagsabgeordneter und Parteivorstandsmitglied der Linkspartei) und dessen Mitarbeiter Harri Grünberg unter der dunklen Überschrift »Über Gewißheiten und Fragen – Neubestimmung als Bringschuld«. Neu zu bestimmen, erklärten sie, sei das Verhältnis der deutschen Linken zum Zionismus. Die Gründung des eigenen jüdischen Staates würdigten sie als das einzige »realitätstaugliche Konzept«, auch wenn es mit »der Vertreibung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung verbunden« sei.

Während Gehrcke und Grünberg im Wesentlichen pragmatisch-machtpolitisch argumentieren, ist Gysi bestrebt, ein ganzes gelehrsames Gebäude zur Begründung einer neuen Außenpolitik der Linkspartei zu errichten. Im ersten Abschnitt geht es um theoretische Aussagen von Carl von Clausewitz in seinem 1830 abgebrochenen Grundsatzwerk »Vom Kriege«, im zweiten um die Untauglichkeit antiimperialistischer Theorien, im dritten um Antiimperialismus und Antizionismus, im vierten um die deutsche Staatsräson, im fünften um das Existenzrecht des Staates Israel und im sechsten abschließend um die Linke, Israel und Palästina.

Bei allem wissenschaftlichen Aufgebot bleibt allerdings seine eigene Position im Vagen und Unbestimmten. Er bezieht sich auf marxistische Positionen, die er gleich wieder in Frage stellt. Den Linken wirft er vor, »in einem Gut-Böse-Schema« befangen zu sein. Ihm geht es vor allem um die politische »Handlungsfähigkeit der Linken«, ausgehend vom »Primat des Praktischen vor der Theorie«. Mit Theorie meint er besonders die theoretischen Aussagen zu Imperialismus und Antiimperialismus. Gysi sagt: »Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus fehlt dem Begriff des Antiimperialismus die machttheoretische Komponente.« Er behauptet, »daß der geistige Antiimperialismus … nicht mehr sinnvoll platziert werden kann«, und fügt hinzu: »falls er es je konnte«. Gysi bestreitet nicht, daß die Kriege gegen Irak, Afghanistan und andere Staaten imperiale Ziele verfolgen. Es gibt also imperiale Ziele, aber keinen Imperialismus und vor allem keinen zulässigen Antiimperialismus. Das Ergebnis von alledem ist, daß eine begriffliche Erfassung der heutigen Welt entfällt. Jeder einzelne Konflikt soll für sich betrachtet werden – konkrete Konfliktbeurteilungen seien »hilfreicher für politische Stellungnahmen als abstrakte Vorentscheidungen«. Das erinnert mich an die berühmt-berüchtigte Debatte vor und auf dem Parteitag der PDS in Münster vom April 2000, wo Gysi und seine Gefolgsleute von ihrer Partei verlangten, keine abstrakten, also verbindlichen Vorentscheidungen für oder gegen Kriegsbeteiligungen zu fassen, weil sich darin mangelndes Vertrauen in den Parteivorstand ausdrücken würde.

Gysi rühmt Clausewitz, ohne ihn historisch einzuordnen. Damals im 19. Jahrhundert stellte niemand das jus ad bellum, also das uneingeschränkte Recht der Staaten, Krieg zu führen, in Frage. Im Ergebnis des 2. Weltkrieges hat sich das grundlegend geändert. Gemäß Artikel 2 Punkt 4 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. 6. 1945 haben alle Mitglieder »jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt« zu unterlassen. Von dem Gewaltverbot gibt es gemäß Kapitel VII der Charta nur zwei Ausnahmen. Erstens hat jeder Staat das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Zweitens kann der Sicherheitsrat – und nur er – feststellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt, und dann entsprechende Maßnahmen bis hin zu militärischen Sanktionen ergreifen (Art. 39 ff). Angriffskriege wurden deshalb bis 1990 eindeutig als völkerrechtswidrig angesehen. Seitdem aber scheint die herrschende Meinung, vor allem unter dem Einfluß der USA, wieder ins 19. Jahrhundert zurückzukehren.

Was aber verbleibt nun Gysi als Maßstab für die Politik der Linken gegenüber dem Konflikt von Israel und Palästina, wenn es nicht eine marxistische oder andere Theorie sein kann und auch nicht das Völkerrecht?

Gysis verblüffender Ausweg ist – Angela Merkel folgend – »die deutsche Staatsräson«, die keine konservative Marotte sei. Hier gehe es um die Anerkennung, »daß es Vorrangregelungen in der Abwägung von Rechtsgütern gibt«. Diese Regelungen ergeben sich für Gysi nicht aus spezifischen Interessen der Wähler der Linkspartei, auch nicht aus der Verfassung, was für einen Juristen nahe läge, sondern aus »den tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen« – und deren Anerkennung ergibt sich aus dem Interesse der Führung der Linkspartei, in der Regierung mitzuwirken, was Gysi ganz offen erklärt.

Es müsse erkannt werden, »wo sich die Staatsräson als vernünftig und akzeptabel darstellt, wo sich etwas verschieben und aufgeben läßt, wo sie einfach hingenommen werden muß …, damit wirklich klar wird, was es für uns tatsächlich bedeutete, etwa in einer Bundesregierung mitzuwirken, … was wir schlucken müßten«, sagt Gysi. Politische Grundsatzentscheidungen brauchten eine moralische Begründung, die »den Schein erzeugen hilft, es hätten ausschließlich Entscheidungen aus Freiheit sein können, die eine bestimmte politische Entwicklung eingeleitet hätten«. Dabei läßt Gysi nicht erkennen, ob er das nun gut oder schlecht findet. Gerade im Falle der »Solidarität mit Israel«, so Gysi, »dominiert eine moralische Rechtfertigung einer politischen Prämisse gegenüber einer rein machtpolitischen«. Wenn die Linke die Solidarität mit Israel als Element deutscher Staatsräson anerkenne und »entsprechendes Interesse an politischer Mitgestaltung hat«, dann müsse sie also bereit sein, auf Änderungen der Politik der Bundesrepublik zu verzichten, in Gysis Diktion »diejenigen Wirklichkeitselemente, die sich tatsächlich auch vernünftig rechtfertigen lassen, nicht ändern zu wollen«. Es gebe Grenzen für die außenpolitische Handlungsfähigkeit einer jeden denkbaren Bundesregierung, die auch für die Linkspartei gelten würden. »Gerade in parlamentarischen Aktivitäten sollten wir nur Forderungen formulieren, von denen wir überzeugt sind, daß wir sie, wenn wir in einer Bundesregierung wären, auch tatsächlich umsetzten.« Nicht so verklausuliert bedeutet das für die Linkspartei, daß sie sich, ohne schon in der Regierung zu sein, deren Disziplin unterwerfen soll.

Daß es für Deutschland (und damit für die Linkspartei) keine Neutralität gebe, sieht Gysi durch die Tatsachen bewiesen, daß deutsche Soldaten Waffenlieferungen an die Hisbollah verhindern sollen, »die Bundesregierung ihre Waffenlieferungen an Israel aber fortsetzt, bis hin zu U-Booten, die sogar mit Atomwaffen bestückt werden können«. Abschließend formuliert er Forderungen an die Adresse Israels, die allesamt schon seit Jahrzehnten wirkungslos von Sicherheitsrat und EU erhoben worden sind.

Für Gysi ist die Staatsräson ein anderer Name für die gemeinsame Position einer künftigen Bundesregierung, der auch die Linkspartei angehört. Damit wird umgekehrt klar, was die Linkspartei im Interesse der Regierungsbeteiligung aufzugeben bereit ist. Gewiß wird sich über manches verhandeln lassen, nicht aber über die Prinzipien der Außenpolitik, die Bereitschaft zu Militäreinsätzen. Das haben die SPD-Politiker Wowereit und Steinmeier der Linkspartei jüngst noch einmal ins Stammbuch geschrieben. Gysi weiß es, auch wenn es hier so verklausuliert daherkommt. Und da kann man nur mit ihm sagen: »Hier ist der Grat zwischen politischem Realismus und prinzipienlosem Opportunismus ganz besonders schmal.«