Im Berlin der Mauerjahre gab es vieles doppelt. Den Westberliner Festwochen standen die Ostberliner Festtage gegenüber, und als Pendant zum Theatertreffen im Westteil der Stadt kreierte man auch noch ein Nationales Theaterfestival der DDR. Das zweite im April 1989 war allerdings auch schon das letzte. Im Unterschied zum Theatertreffen hatte man auch Musik-, Tanz-, Puppen-, Kinder- und Jugendtheater sowie Kabarett einbezogen. Die Auswahl traf nach dem Vorbild des Theatertreffens eine Kritikerjury. Unter den zwölf Schauspielinszenierungen waren 1989 drei Stücke von Heiner Müller und zwei Regiearbeiten von Frank Castorf. Vor dem diesjährigen Theatertreffen diskutierte die Jury über 64 Inszenierungen, nur fünf davon waren ostdeutscher Bühnenprovenienz, keine schaffte es in die zehn Programmierungen.
Solche Erinnerungen stellten sich beim Besuch der außergewöhnlichsten Produktion des Theatertreffens 2008 ein: »Die Erscheinungen der Martha Rubin«. Die Eingangsprozedur in der ehemaligen Lokhalle mitten im Naturpark Schöneberger Südgelände ähnelte meinen einstigen Grenzübertritten in die Ostberliner Theaterlandschaft. Hinter einem Tisch mit vielen Stempeln thronte eine graugewandete Militärperson, die eine Frau zur Ordnung rief, die sich nicht in die Warteschlange eingereiht hatte. Nach einer Befragung über den Zweck meines Besuchs erhielt ich einen mit meinem Fingerabdruck versehenen Ausweis des »Nordstaates« und in einer Baracke über ein Fernsehgerät Informationen über das von mir betretene Niemandsland zwischen Nord- und Südstaat, das in 25 Unterkünften 30 Personen beherberge. Die Empfehlung, sexuellen Kontakt mit den Bewohnern zu vermeiden, erwies sich als überflüssig. Am Morgen des letzten Tages der »Nonstop-Performance-Installation von SIGNA« war zwischen den Bretterbuden und alten Wohnwagen tote Hose. Mir und meinen wenigen Mitbesuchern wurden weder Wodka noch Einladung zu einer Peep-Show angeboten, wie das sonst zum Programm gehörte, inklusive der Möglichkeit einer Übernachtung.
Wir schlenderten verloren durch die Containerstadt, blickten in ärmliche Unterkünfte mit zerwühlten Betten, einige Bewohner schliefen, andere widmeten sich ungerührt von neugierigen Blicken ihrer Morgentoilette. In der Kapelle der als Heilige verehrten Martha Rubin hing über ihrer Schlafstatt ein Fliegenfänger, eine Mutter-Gottes-Statue war von Blechbüchsen eines »Tibet Talcum Powders« aus Karachi umgeben. Martha Rubin selbst konnte in einer Art Zigeuner-Baronesse-Kostüm bestaunt werden, in dem die dänische Konzeptkünstlerin Signa Sorensen leibhaftig steckte. Sie hat gemeinsam mit dem Österreicher Arthur Köstler diese »Ruby Town« erfunden. In Skandinavien ist sie mit zahlreichen ähnlichen Projekten wie diesem aus Köln berühmt geworden. Ich kam mir in der von ihr kreierten Umgebung wie der touristische Voyeur im Slum einer asiatischen oder lateinamerikanischen Großstadt vor. Mehr Erkenntniswert konnte ich dieser von der Jury als eine der »zehn bemerkenswertesten Aufführungen der deutschsprachigen Schauspielbühnen« ausgewählten Inszenierung nicht abgewinnen.
Wenn dieses nun schon zum 45. Male veranstaltete Theatertreffen noch einen Sinn hat, dann den, die Wandlungen des Begriffs Theater zu dokumentieren. Das gilt, nicht nur bei »Martha Rubin«, auch für die Spielorte. Auch Jan Bosses »Hamlet« bezieht das Publikum mit ein: Die Zuschauer sitzen an weiß gedeckten Tischen um die Spielfläche. Und es gilt für den Wechsel der Regie-Generation. Die heute 30- und 40jährigen bringen neue Inszenierungsstile ein.
Zum modischen Theatertrend gehört die Anleihe beim Kino. Immer mehr Filmstoffe werden auf die Bühne transportiert. Beim Theatertreffen diente ein Klassiker von Rainer Werner Fassbinder als Beispiel: »Die Ehe der Maria Braun«. Der frühverstorbene Regie-Berserker erzählte 1978 die Geschichte einer Frauenemanzipation, die, wie in vielen realen Fällen, mit der Heimkehr der Männer ins Wirtschaftswunderland endete, als Melodram. Thomas Ostermeier machte daraus an den Münchner Kammerspielen fast ein Brechtsches Lehrstück. In der einst von Hanna Schygulla verkörperten Titelrolle brilliert Brigitte Hobmeier, alle übrigen 27 Rollen, auch die weiblichen, werden von vier Männern gespielt, die zwischen 50er-Jahre-Möbeln in Klamotten von damals und mit Perücken für komische Travestie-Effekte sorgen. Videoprojektionen und Zitate vom Führerkult – Marias Ehe begann mit einer Kriegstrauung – sowie O-Töne von Konrad Adenauer vermitteln den zeithistorischen Hintergrund.
Modischen Regiemitteln wie Video und Bühnennebel begegnete man wieder in einer Inszenierung von Armin Petras am Schauspiel Frankfurt am Main: »Gertrud«. Gleichfalls kein originärer Theatertext, sondern die Adaption eines fast 1000 Seiten dicken Romans von Einar Schleef, in dem der Autor und Regisseur den Lebensweg seiner Mutter von der Geburt im Kaiserreich bis zum einsamen Alter in der DDR rekapitulierte. Wiederum eine gescheiterte Emanzipationsgeschichte, die auch deutsche Geschichte reflektiert. Vier Schauspielerinnen, die Gertrud in ihren verschiedenen Lebensaltern darstellen, entsteigen einem Kellerloch, Gruft ihrer Erinnerungen, monologisieren, sprechen auch miteinander. Theatralisch gibt das wenig her, eher ein Hörspiel.
Überwiegend Monologe dann auch beim 36jährigen Hausautor des Londoner Royal Court Theatre, Simon Stephens. Der Titel »Pornographie« seines Auftragswerkes für das Festival experimenteller Aufführungen »Theaterformen« in Hannover könnte falsche Erwartungen wecken. Regisseur Sebastian Nübling löste sie nicht einmal mit den Sexszenen zweier Brüder ein; der Autor hatte einleuchtender einen Bruder/Schwester-Inzest gemeint. Jede der sieben Alltagsszenen genervter Großstädter handelt von einer Grenzüberschreitung, die zumeist nur in der Phantasie ausgelebt wird. Pornographisch ist die Normalität, aus der auch die Attentäter der Londoner Bombenanschläge vom Juli 2005 kamen. Die Verlesung der Lebensläufe ihrer 52 Opfer in Stichworten aus dem Off ist freilich fast der einzige Hinweis auf diesen Hintergrund des ganz undramatischen Textes. Bebildert wird er durch das die ganze Rückwand der Bühne (Muriel Gerstner) als Puzzle einnehmende Breughelsche Gemälde vom Turmbau zu Babel. Die Leerstellen auszufüllen, bemühen sich die Akteure immer wieder, wozu sie auch mal die sonst die Szene beherrschenden Tische stapeln, zwischen denen sie zumeist hektisch in Bewegung gehalten werden.
Sinnfälliger vermitteln sich aktuelle Assoziationen in Stephan Kimmigs Inszenierung von Schillers »Maria Stuart« am Hamburger Thalia-Theater. Ein gläserner Kubus (Katja Hass) in klinischem Weiß. Auf der Drehbühne befinden sich Marias Gefängnis und Elisabeths Konferenzraum in unmittelbarer Nachbarschaft. Auch das Schlafgemach der machtmüden verantwortungsscheuen englischen Königin (Paula Dombrowski) gleicht mit dem Feldbett einer Haftzelle. Sie kalkweiß geschminkt im Hosenanzug, ihre Hofschranzen in Nadelstreifen bürokratischer Manager eines intriganten Politmechanismus rücken uns genauso nahe wie die des Terrorismus beschuldigte schottische Angeklagte in Einzelhaft (Susanne Wolff war am Thalia schon Jelineks Meinhof-»Ulrike Maria Stuart«), meist an einen Sessel gefesselt, der einem elektrischen Stuhl gleicht. »Wir foltern nicht, hier wird nicht gefoltert«, sagt Burleigh bei einem Besuch im Kerker.
Mit vier weiteren Inszenierungen stellte klassisches Theaterrepertoire die Hälfte der Auswahl. Jürgen Gosch gibt im Berliner Deutschen Theater – das noch Michael Thalheimers gewohnt minimalistische Interpretationen von Hauptmanns »Ratten« beisteuerte – Tschechows »Onkel Wanja« berührend realistisch, nicht ohne Komisches auszusparen, wobei freilich Christian Grashof seinen professoralen Eindringling in die ländliche Tristesse leider überchargiert. Den krassen Gegensatz zu Gosch liefert Stefan Puchers »Sturm« von den Münchner Kammerspielen: Shakespeare als multimedial aufgemotztes Spektakel in einem Mix aus Pop-Elementen, Anleihen bei Film und Comedy. Alles aus zweiter Hand, bemerkenswert nur in negativem Sinne. Jan Bosses »Hamlet« aus Zürich wiederum zeigt ein modernes Machtspiel, aber mit dem Akzent auf -spiel, nicht so ernst. Wer sich an Heiner Müllers intellektuellen Kraftakt seiner »Hamlet«-Inszenierung vom März 1990 als DDR-Ende-Reflexion im Deutschen Theater erinnerte, wurde sich der seitherigen Bühnen-Wende bewußt.
Die Züricher setzten schließlich den Schlußpunkt des Theatertreffens. Kenner der Schweizer Theaterszene konnten sich anfangs an Anspielungen Christoph Marthalers auf seinen vor Jahren nicht ganz freiwilligen Abgang von der Intendanz in der eidgenössischen Bankenmetropole delektieren, vor allem aber liefert seine Revue »Platz Mangel« eine köstliche Parodie auf unseren Wellnesswahn. Natürlich fehlt es dabei nicht an von dem Autor-Regisseur als Markenzeichen gewohnten ausgiebigen Musikeinlagen von Modern Talking über Bach, Schubert und Mahler. Die mit einer Schwebebahn eintreffenden ersten wohlbetuchten Gäste in »Dr. Dr. Bläsis Höhen- und Tiefenklinik« müssen sich zwischen ihren Gesängen allerlei Therapien unterziehen und erhalten weitere aus unserem Medizinsystem bekannte Angebote zur Gesundheitsvorsorge, angepriesen in variablen Packages. Das Vergnügen an diesem Theaterspaß trägt aber nicht ganz über gute zwei Stunden, so daß man deren ironischen musikalischen Beginn »Bye bye friends, we’ve gotta go, its the end of the show« gegen Ende doch etwas früher herbeiwünschte.
Das Publikum strömte wie immer, und auch die integrierte Talenteförderung für den Bühnennachwuchs erfüllte ihren Zweck. Bilanz: Theatertreffen als Spiegel der Anything-goes-Gesellschaft. Theater heute. Aber da war doch mal was ...