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Titel1108

Bemerkungen

Brief aus Hamburg
Wie seit Jahren fanden zum Gedenken an die Bücherverbrennung 1933 eine Veranstaltung – diesmal eröffnet von der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Hamburg, Ruben Herzberg, sowie dem ver.di-Landesvorsitzenden Wolfgang Rose – und Lesungen vor allem von Schülern statt.

Nach ersten Beiträgen auf der kleinen Naturbühne der Gedenkstätte am Kaiser-Friedrich-Ufer, wo damals die Scheiterhaufen brannten, ging es stationsweise weiter: Gänsemarkt (mit Bischöfin Maria Jepsen), Rathausmarkt, Mönckeberg-Brunnen, Bücherhallen. Auf dem Rathausmarkt, am wiedererrichteten Heinrich-Heine-Denkmal, war die Reihe an mir. Ich begann mit Heines »Wenn ich sterbe, wird die Zunge ausgeschnitten meinem Leibe – denn sie fürchten, redend käm ich wieder aus dem Totenreiche«, schloß sinngemäß an, daß Heine wiederkehrt in jedem, der sich kritisch mit den gesellschaftlichen und politischen Fragen jeweiliger Gegenwart auseinandersetzt und öffentlich dafür einsteht; nannte den Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien 1999, an dem sich Deutschland beteiligte (und der, wie Otto Köhler schrieb, zum »Gründungsmythos der Berliner Republik« erhoben worden ist), den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, die Duldung der Überflugrechte für die USA gegen Irak; wies auf die zunehmenden sozialen Probleme hin, die schwindenden Perspektiven der Jugendlichen, die Nöte der Rentner; schließlich auf die Folgen der Privatisierung: Zweiklassensystem im Gesundheits- und zunehmend auch im Bildungswesen.

Hinter mir hörte ich Fluchen, das lauter wurde und näher kam. Ich fuhr fort mit Heine: »Man kann meine Bücher verbrennen, meine Worte ausmerzen – ich bin überall angeeckt und ausgestoßen, aber eines kann man mir nicht nehmen: die Vernunft, die in diesem Jahrhundert und in diesem Lande eine Rarität ist.« Bei diesem Satz traf mich ein heftiger Schlag auf den Rücken. Ich unterbrach. Als ich mich umdrehte, stand ich vor einem älteren, auffallend großen Herrn, erstklassig gekleidet, der seine metallene Gehhilfe, die er eben als Prügel benutzt hatte, in der Hand hielt. Mein »Wie können Sie mich schlagen?« beantwortete er mit der Kritik des eben Gehörten und dem Hinweis, Auftritte solcher Art seien im Bereich der Bannmeile um das Rathaus nicht statthaft. Die Polizei nahm sich seiner an, ich las weiter Heine-Texte vor.

Politisch peinlich wurde der Vorfall, als sich herausstellte, daß es sich bei dem 69jährigen Herrn um den aus Neustadt am Rübenberge stammenden FDP-Politiker Wilhelm Rahlfs handelt, der unter den Hamburger Bürgermeistern Dohnanyi und Voscherau Wirtschaftssenator war.

Der Schlag machte mir noch zwei Wochen zu schaffen. Schmerzhafter ist die Beschädigung des Anliegens, alljährlich der Nazi-Verbrechen und ihrer Opfer zu gedenken.

Rolf Becker


Wie den Arbeiten des Neustädter Stadthistorikers Hubert Brieden zu entnehmen ist, hat Wilhelm Rahlfs seine FDP-Mitgliedschaft gleichsam geerbt. Sein Vater, der ebenfalls Wilhelm Rahlfs hieß, war zweimal Bürgermeister der niedersächsischen Stadt. Zuvor hatte der Bauunternehmer in der Nazi-Zeit einträgliche Geschäfte gemacht, »vom Rüstungsboom profitiert«, »mißliebige Menschen denunziert« und es bis zum SS-Obersturmbannführer gebracht. Für den Sohn war das väterliche Erbe offenbar karrierefördernd.
Red.


Gehorsam
Die Erich-Maria-Remarque-Gesellschaft hat uns folgende Nachricht aus der Schweiz übermittelt: Der inzwischen 24 Jahre alte Student Yan Juillerat aus Lausanne, der sechs Jahre darum gekämpft hat, keine Waffe tragen zu müssen, muß wegen dieser Weigerung nun sechs Monate Haft absitzen. Ein dreiköpfiges Militärgremium unter Vorsitz eines Obersten hatte sein Gewissen geprüft, und zwar auf folgende Weise: »Hatten Sie Religionsunterricht?« – »Ja, aber das hat mir nicht gefallen – und heute bin ich Atheist.« – »Was ist für Sie das Gewissen?« – »Es sind meine Ideen, das, was ich erlebt habe, mein inneres Ich.« – »Und was sagt es Ihnen?« – »Daß es normal sei, seinem Land zu dienen und sich tatkräftig einzusetzen. Die Armee betrachte ich jedoch als nutzlos. Da könnte ich meinem Land nicht dienen. Ein guter Soldat ist eine Maschine, die Befehlen gehorcht, ohne Fragen zu stellen.« – »Was für eine Maschine?« – »Eine Tötungsmaschine.« – »Und warum können Sie nicht töten?« – »Weil ich ein menschliches Wesen bin und als solches nicht meinesgleichen töten kann. Es gibt Gesetze und Verfassungen, die sagen, daß man nicht das Recht hat zu töten. Darum bin ich auch gegen die Todesstrafe.« – »Aber im Krieg würde doch der Staat die Verantwortung übernehmen!« – »Das wäre sehr schlimm. Wir sind alle für unsere Taten verantwortlich.«

Das Gremium lehnte Juillerats Gesuch mit der Begründung ab: »In den entscheidenden Punkten waren Ihre Beteuerungen zu ausweichend und zu widersprüchlich.« Aber er war weiterhin nicht zum Dienst an der Waffe bereit. Das Militärgericht in Yverdon sprach ihn der Militärdienstverweigerung schuldig und verurteilte ihn zu sieben Monaten Haft; außerdem sollte er 800 Franken Verfahrenskosten erstatten. Das Militärappellationsgericht reduzierte die Strafe auf sechs Monate und 500 Franken. Der Schweizer Bundesrat (Bundesregierung) hatte zuvor den Akten entnommen, daß »kein interner Gewissenskonflikt« vorliege, der Juillerat »den Dienst mit der Waffe verbieten würde«.

Welche Anmaßung!

Zwar hat das schweizerische Bundesheer im Gegensatz zum deutschen Militär keine Angriffskriege geführt. Insofern konnte es sich bisher glaubwürdig als Verteidigungsstreitmacht darstellen. Aber der Druck auf die Schweiz nimmt zu, sich in die Europäische Union und in die NATO einzugliedern. Je größer die Bereitschaft in den Berner Regierungsparteien, die jahrhundertelang bewahrte Neutralität und Friedlichkeit aufzugeben, desto böser der Zwang zu gehorsamem Töten.

Wie die deutsche Bundeswehr mit Gehorsamsverweigerern verfährt, zeigt exemplarisch ein Fall, auf den die Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen dieser Tage aufmerksam machte: Matthias Schirmer wurde am 1. April in die Kaserne Viereck bei Pasewalk einberufen und am 5. April durch Feldjäger zugeführt. Er verweigert den Dienst, da ihm die »Wehrpflicht nicht mit Demokratie und Freiheit sowie den Menschenrechten« vereinbar erscheint. Nach zwölf Tagen Stubenarrest verhängte die Bundeswehr 21 Tage Haft, die vom 17. April bis zum 7. Mai vollstreckt wurde. Am 9. Mai wurden weitere 21 Tage Arrest verhängt. Das Truppendienstgericht Nord beschloß die sofortige Vollstreckbarkeit des Arrestes, »weil dies zur Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung geboten ist«. Das Gericht erläuterte: »Die Pflicht zu Gehorsam gehört zu den zentralen Dienstpflichten eines jeden Soldaten; fehlt die Bereitschaft zum Gehorsam, kann die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr in Frage gestellt sein.«

Schirmer trat in Hungerstreik. Seinen Eltern berichtete er brieflich, die Bundeswehr habe ihm das Telefonieren verboten und auch den täglichen einstündigen Ausgang untersagt. In der Nacht werde er stündlich geweckt. Eine besondere Schikane: Wachhabende führten den Hungerstreikenden in die Kantine, wo er den Soldaten beim Essen zusehen sollte.

So zeigt sich die deutsche Armee hochqualifiziert, andere Völker zu bekriegen, um ihnen Freiheit und Demokratie zu bringen.
E.S.

Erich-Maria-Remarque-Gesellschaft, Seminarstraße 20, 49069 Osnabrück; Deutsche Friedensgesellschaft / Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, Kasseler Straße 1a, 60486 Frankfurt am Main


Auf Dauer
Das deutsche Militär denkt langfristig. Wo es auf fremdem Boden einmal Fuß gefaßt hat, da möchte es bleiben – wie in Kosovo so auch in Afghanistan. »Aufbau oder Rückzug – bleiben oder gehen? Wie werden wir Afghanistan gerecht?« lautete die Titelfrage einer Veranstaltung in Berlin, zu der die entwicklungspolitischen Einrichtungen des Bundes eingeladen hatten. Für Marco Seliger, Chefredakteur von loyal, dem Magazin des Reservistenverbandes, war die Antwort klar: »Wir bleiben.« Das große Feldlager der Bundeswehr in Masar-i-Sharif sei für 15 bis 20 Jahre ausgelegt. In Kundus, dem zweiten Bundeswehr-Standort, habe das dort stationierte Wiederaufbau-Team monatelang nicht ausrücken können, weil es unter ständigem Raketenbeschuß gelegen habe, berichtete er und teilte auch mit, daß immer mehr Taliban-Kämpfer in die Umgebung von Kundus eingesickert seien. Mit der jetzigen Generation von Afghanen sei es schwierig, die Demokratie aufzubauen. »Wir brauchen eine neue Generation«, erklärte Seliger und orientierte damit auf einen 25jährigen Aufenthalt der Bundeswehr am Hindukusch. Oberstleutnant Jürgen Rose (Ossietzky-Lesern bekannt) wies darauf hin, daß die militärischen Kosten mindestens zehnmal höher seien als der Wert der zivilen Hilfe. Das Ausmaß der zugleich von US-Bombern angerichteten Zerstörungen wußte niemand zu beziffern. Wir erinnern uns: Es war die »uneingeschränkte Solidarität« mit den USA, die man uns als Grund für die Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan nannte.
 Karla Koriander


Walter Kaufmanns Lektüre
Am Ende schließt sich der Kreis: Woher Egon Erwin Kisch kam, dorthin kehrte er zurück. Doch das jüdische Leben seiner Anfänge findet keine Entsprechung im Prag der späten vierziger Jahre: »Ich habe viele Tote getroffen«, schreibt er, »sie stehen vor jedem Haus, sehen aus jedem Fenster. Es sind alte Freunde, Verwandte, Bekannte, die mich anblicken. Sie sind durch den Nazismus gestorben.« Oh, dieses blasse Wort gestorben! Sie wurden ermordet.

Weiter schreibt Kisch: »Es ist ein trauriges Gefühl, auf einen Friedhof zurückzukehren.« Und wer das Büchlein über diesen unermüdlichen Reporter liest, den Mann mit dem »prophetischen Sinn für das Gegenwärtige« (Heinrich Mann), wird nachempfinden, was Kisch bei seiner Rückkehr erfahren mußte: Bruder Paul war in Theresienstadt umgekommen, Bruder Arnold im KZ Litzmannstadt.

»Danach zu fragen, ob du weißt, wie meine Brüder endeten, fürchte ich geradezu«, hatte er aus Mexiko noch im September 45 an eine tschechische Freundin geschrieben. Nun war er jeder Hoffnung beraubt, und daß er von all den Ämtern, die ihm in seiner Heimatstadt angeboten wurden, nur den Ehrenvorsitz des Rates der jüdischen Kultusgemeinde von Böhmen und Mähren annahm, wird eben dieser Erfahrung geschuldet sein.

Klaus Haupt stellt den Prager Journalisten aus jüdischem Elternhaus neben den kommunistischen Reporter mit Welterfahrung und Weltruhm – und öffnet so durch das kleine Fenster von siebzig Seiten eine weite Sicht. Sein Büchlein wurde in die inzwischen umfangreiche Reihe »Jüdische Miniaturen« (über Max Liebermann, Anna Seghers, Kurt Tucholsky und viele andere) einbezogen, und es sei dem Centrum Judaicum hoch angerechnet, sich dafür verwendet zu haben.
W. K.

Klaus Haupt: »Egon Erwin Kisch. Der Rasende Reporter«, Hentrich & Hentrich, 72 Seiten, 6.90 €, www.egon-erwin-kisch.de


Press-Kohl
Das unermüdliche Leben der Diplomaten wird Leuten, die nicht in höheren Sphären zu schweben wissen, sondern zeitlebens auf dem teppichfreien Boden der unfreundlichen Tatsachen ihre Schuhsohlen abschleifen, durch einen Blick ins Diplomatische Magazin näher beschrieben – eine publizistische Gnade, die mir zuteil wurde, als ich eine grüne Gurke auswickelte, welche der Händler sorgsam ins Diplomatische Magazin (März 2008, Seien 37/38) gehüllt hatte.

Was geschah im Ambassador’s Club e.V. (Präsidentin: Mania Feilcke)?

»Beim Lunch mit dem Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Dr. August Hanning, im Maritim Hotel Berlin zum Thema Sicherheitslage der Nation war mit 38 Teilnehmern der Besuch noch höher, als vorauszusehen war.« Die reinste Massenveranstaltung. »Der Redner betonte, daß die Situation in Europa sicherer sei als je zuvor ... Allerdings warnte er vor Globalisierungsrisiken, demografischen Problemen, Naturkatastrophen und Terrorismus.« Dankenswerterweise konnte Staatssekretär Hanning zur Bekämpfung des Terrorismus ein verblüffendes Rezept verraten: »Der Rechtsstaat müsse Terroristen und anderen Kriminellen dort begegnen, wo sie operieren.« Wer hätte das gedacht!

Silvia Meixner porträtiert an anderer Stelle des Blatts einen unermüdlichen Frühaufsteher: »Morgens um sechs Uhr sagte der Vater zu seinen vier Söhnen: ›Auf geht’s, Burschen, bald wird’s Nacht!‹ Einer der Söhne war Georg Kieferle, und wenn er heute an diesen Weckruf denkt, sagt er lächelnd: ›Das hat mich geprägt.‹ Der Vater besaß ein Sägewerk, der Sohn wurde Architekt und ist seit 22 Jahren Honorarkonsul von Chile in Stuttgart.« Wie wird man das? Indem man, vorausgesetzt, der Papa als Besitzer eines Sägewerks hat einen stets früh um sechs Uhr mit derselben Phrase geprägt (oder gesägt) und man ist demzufolge zu einem der vielen unermüdlichen Frühaufsteher geworden, aus denen sich fast alle Honorarkonsuln der Welt rekrutieren.
Felix Mantel