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Titel1109

»68« ist endlich gewendet  (Arno Klönne)

Wer hätte das gedacht, als im vergangenen Jahr die geschäftige Erinnerung an das tolle Jahr 1968 die Medien füllte? Jetzt muß, einem Zufallsfund in Stasi-Akten zu verdanken, die Geschichte der Studentenbewegung, ach was, der gesamten außerparlamentarischen Opposition oder gar der Alt-Bundesrepublik in toto neu geschrieben werden. Kurras brachte Ohnesorg um – »ein Schuß, der die Republik veränderte«, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland am 23. Mai und einen Tag später die Welt am Sonntag desgleichen; und dieses historische Schlüsselereignis läßt sich nun neu deuten: Es hat seine Urgründe im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit, das ja, wie man weiß, den Sinn seiner Existenz darin sah, den westdeutschen Staat umzustürzen.

Überall wird nun spekuliert: Kurras als »geheimer Mitarbeiter« des MfS, »hätten wir das damals gewußt, dann …«, die Revolte mit dem Zeichen »68« hätte es nicht gegeben, auch nicht den »Terrorismus«, in den, wie die kundigen Konzernblätter schreiben, »68 umgeschlagen ist«. Freudig erregt meldet sich Wolfgang Kraushaar, »68«-Experte vom Dienst, und berichtet, »eine ehemalige SDS-Aktivistin habe nun eingesehen, daß »ihre Politisierung auf einer Lebenslüge aufgebaut gewesen« sei. Aber über was, wäre damals die ganze »Radikalisierung« ausgeblieben, hätte sich Kraushaar später publizistisch erfolgreich machen können?

An der Spitze der Geschichtsumschreiber steht Stefan Aust, bis 2008 Chefredakteur des Spiegel (einst in seinen journalistischen Lehrjahren bei konkret und den St. Pauli-Nachrichten tätig, was die FAZ erstaunlicherweise unerwähnt läßt). Zwar sei, schreibt Aust in der FAZ, »bisher kein Hinweis darauf gefunden worden, daß Kurras quasi im dienstlichen Auftrag der Stasi handelte, als er auf den harmlosen Studenten schoß«, aber für den »68«-Experten ist jedenfalls »ein Wendepunkt historischer Betrachtung gekommen«. Die »epochale Enthüllung« werfe Fragen auf: »Gab es in Ost-Berlin ein Interesse daran, die Studenten durch spektakuläre Aktionen richtig auf die Barrikaden zu treiben? Ihnen einen weiteren Anlaß für die ›Gegengewalt‹ zu geben? Hat man sehenden Auges in Kauf genommen, daß sich in der Bundesrepublik der Terrorismus ausbreitete?« Auf solche Fragen liegen die richtigen Antworten nahe.

Nur die Fakten könnten stören: Staatssicherheit und SED waren, so die Akten, mit dem Kurras-Schuß gar nicht einverstanden, sie werteten ihn als Verbrechen, als abweichendes Verhalten eines schießfreudigen Waffennarren, der ihnen als unauffälliger Beschaffer von Informationen doch weiterhin gute Dienste hätte leisten können.

Um historische Empirie muß sich ein Journalist wie Aust nicht weiter kümmern; Hauptsache, die Wende ist da, und ein Thema, zu dem auch dieser Experte sonst nichts mehr zu produzieren wüßte, läßt sich noch einmal neu verwerten, diesmal politisch völlig korrekt: Die Stasi war’s.