»Ich will hier rein!« Dieser legendäre Ruf stammt bekanntlich von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der als junger Mann in Bonn vor dem Kanzleramt am Zaun rüttelte. Ähnlich rief sein späterer Haupt-Adlatus und heutige SPD-Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier aus, als er in Saaringen, einem 50 Einwohner zählenden Dörfchen zwischen Ketzin und der Stadt Brandenburg, einen romantischen alten Bauernhof sah. Ihn reizte nicht nur die idyllische Lage des zwischen Wiesen und dem Ufer der Havel eingebetteten Hofes aus dem 19. Jahrhundert, sondern vor allem der Umstand, daß das verlassene Nest zum Wahlkreis Brandenburg an der Havel gehört, in dem er zum ersten Mal für den Bundestag kandidiert. Kaum hatte er in dem Gehöft als Untermieter eine 150 Quadratmeter große Zweitwohnung – seine Hauptwohnung liegt standesgemäß im Berliner Nobelbezirk Zehlendorf – für 850 Euro monatlich gemietet, traten unerwartete Schwierigkeiten auf. Miteigentümer des Hofes fühlten sich übergangen und bestritten die Rechtmäßigkeit des Mietvertrags. Sie zogen vor Gericht und wollten per einstweiliger Verfügung erreichen, daß Steinmeier und andere Mieter das Grundstück nicht mehr betreten dürfen. Das Vorhaben der Kläger scheiterte vor dem Landgericht Potsdam. Steinmeier konnte aufatmen. Er war nicht nur reingekommen, er darf bis auf Weiteres auch bleiben, wenn er denn will.
Im letzten Jahrzehnt hat der vielseitig begabte Steinmeier manche Hürde genommen und gleich mehrere Metamorphosen vollzogen, die jeden Verwandlungskünstler vor Neid erblassen lassen können: vom heimlichen Strippenzieher im Kanzleramt zum allgegenwärtigen Kanzlerkandidaten, vom Mitautor der »Agenda 2010« zum Streiter für soziale Gerechtigkeit, vom Chef aller bundesdeutschen Geheimdienste zum omnipräsenten Außenminister, von einem der Hauptverantwortlichen für die Teilnahme der BRD an der Aggression gegen Jugoslawien zum Friedensengel, vom wahlkämpfenden Kritiker des US-Überfalls auf den Irak zum klandestinen Gehilfen des Pentagons und der hilfsbedürftigen US-amerikanischen Schlapphüte. Nun will der ehemalige Kanzleramtsminister also Kanzler werden, der, wie er kürzlich im Hans-Otto-Theater in Potsdam verkündete, einen »Neustart der sozialen Marktwirtschaft« einleitet.
Mit Hilfe des reaktivierten Franz Müntefering hat er seinen Ex-Freund und kurzzeitigen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck in die Pfalz zurückgeschickt und sich für seine Kandidatur ein schönes Wahlprogramm schreiben lassen, das aufgrund der vielen Anleihen von der Linkspartei geradezu den Anschein eines Linksrucks seiner Partei und seiner selbst erwecken kann. Die »Agenda 2010« findet darin nicht einmal Erwähnung, als wollte er aus lauter Bescheidenheit dieses große Werk verschweigen. Aber beim Wähler genießt dieses Dokument des antisozialen Raubzuges nicht den besten Ruf, und so gilt die Maxime, die Vizekanzler Steinmeier am 14. Januar 2009 im Bundestag verkündete: »Wer nach Schuld fragt, liegt falsch. Wir müssen in die Zukunft blicken.«
So stehen denn im neuen Programm wunderbare Forderungen und Regierungsziele: gesetzlicher Mindestlohn, Reichensteuer, Ausweitung der Mitbestimmung der Belegschaften in den Unternehmen, Begrenzung der Managergehälter, Börsenumsatzsteuer und vieles mehr. Nur die Vermögenssteuer ist unter den Tisch gefallen, aber ansonsten ist dieser für den Wähler reich gedeckt. Da die SPD allerdings im Herbst schwerlich allein die Bundesregierung bilden kann, wird sie Koalitionspartner brauchen. Dafür hat der Teufelskerl Steinmeier schon ziemlich klare Vorstellungen, die er in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung so formulierte: »Die deutsche Sozialdemokratie wird alles dafür tun, so stark wie möglich zu werden. Deshalb bin ich mir sicher: Es wird keine schwarz-gelbe Mehrheit geben. Ich wünsche mir die Grünen als Koalitionspartner. Und ich gehe davon aus, daß die FDP regieren will. Daraus ergibt sich: Die Ampel ist eine realistische Perspektive.« Natürlich weiß er, daß Westerwelle bei solchen Angeboten im Programm lieber mit Frau Merkel regieren wird. Aber der FDP zuliebe könnte die SPD nach der Wahl ja diese oder jene Forderung aufgeben. Erfahrung hat sie, schließlich ist Wahlkämpfer Steinmeier auch ein exzellenter Rechner. Wie er 2005 ebenfalls gemeinsam mit Müntefering nach der letzten Bundestagswahl aus null Prozent Mehrwertsteuererhöhung (SPD) und zwei Prozent (CDU/CSU) eine das Volk erfreuende Drei errechnete, das war schon eine Meisterleistung. Ein großer Wurf ist auch das von Steinmeiers Wahlkampfteam erdachte und von Arbeitsminister Scholz initiierte Gesetz, mit dem Rentenkürzungen verhindert werden sollen. Ein vorgezogenes Wahlkampfgeschenk, an dem die Danäer ihre helle Freude hätten, werden damit doch in Zeiten wachsender Inflationsgefahr die bei Rentnern so beliebten Nullrunden ohne Inflationsausgleich im voraus per Gesetz legitimiert.
Dem Kanzlerkandidaten Steinmeier kann der Trick jetzt erst einmal Stimmen bringen; später kann er ihm die erhoffte Regierungsarbeit erleichtern. Noch aber ist er Vizekanzler und Chef des Auswärtigen Amtes. In seinem Büro hängt ein Porträt von Willy Brandt. Ob er dessen Politik als Vorbild betrachtet, ist zu bezweifeln, aber immerhin wurde Brandt vom Außenminister zum Kanzler. Sollte Steinmeier wider Erwarten den gleichen Karrieresprung schaffen und ins Kanzleramt »reinkommen«, dann wird die entscheidende erste Veränderung wohl darin bestehen, daß er in seinem Arbeitszimmer Merkels Adenauer-Porträt entfernen und durch sein Brandt-Bild ersetzen wird. Kommt er nicht rein, bleibt ihm als Trost, daß er ein feines Wahlprogramm hatte und zeitweilig eine Zweitwohnung im idyllischen kleinen Dorf Saaringen an der Havel.