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Titel1109

Mythos Worpswede  (Arn Strohmeyer)

Die Worpsweder Künstlerkolonie feiert in diesem Jahr ihren 120. Geburtstag. Ein hohes Alter für eine solche Gemeinschaft. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten verklärt man in dem Dorf bei Bremen die eigene Geschichte zum Mythos.

Die Worpsweder Maler der ersten Generation – zu ihnen gehörten Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende, Fritz Overbeck, Carl Vinnen und Heinrich Vogeler – strebten, so heißt es in den Darstellungen über sie immer wieder, nach der Einheit von Mensch und Natur und wollten in einer von der Zivilisation weitgehend unberührten Landschaft diesen Traum realisieren. Natur- und Kunsterlebnis sollten übereinstimmen. Auch die Sehnsucht nach Heimat und nach dem ursprünglichen Leben der Bauern wird als Leitlinie ihres Lebens und Schaffens genannt. Ihre Kunst sollte »echt«, »wahrhaft«, »einfach« sein und aus dem unmittelbaren Eindruck kommen; jedes Kunstdogma lehnten sie ab. Sie wollten das »Ewige« und »Dauerhafte« der Natur erleben und festhalten.

Allein diese beiden Begriffe belegen, wie mythisch sie fühlten und dachten, denn Zeit- und Geschichtslosigkeit sind konstituierende Merkmale des Mythos, wohingegen die Natur ständige Entwicklung und Bewegung ist, also keinen Stillstand kennt. Der Mythos der Worpsweder Künstler war deshalb schon vordergründig betrachtet ein irrtümliches Unternehmen.

Zudem flohen diese Maler nur vermeintlich in eine unberührte und intakte Natur. In Wirklichkeit war das Land um Worpswede längst durch industrielle oder agrarwirtschaftliche Nutzung, Zerstörung, Zersiedlung und das Verschwinden der alten Lebensformen bestimmt. Dies alles wie auch die bittere Armut der Moorbauern kommt aber in ihren Bildern nicht vor. Sie lehnten jede Form von sozialkritischem Realismus ab. Ihre Werke werden heute noch unter denselben Prämissen gezeigt, unter denen diese Künstler angetreten waren: als Ergebnis des reinen Naturerlebnisses in dem armen Moordorf an der Hamme.

Der Mythos verschleiert immer Teile der vielfältigen Wirklichkeit. Was ist die geleugnete Seite des Worpswede-Mythos? Als Antwort auf diese Frage genügt vielleicht ein einziger historischer Begriff: Kulturpessimismus. Was der Worpswede-Mythos bis heute als großen Aufbruch in die Natur, in die Einfachheit des Moordorfes schildert, was er als mutige Auflehnung gegen die vorherrschende Kunst und die Akademien der damaligen Zeit verklärt, war in Wirklichkeit keine heroische Tat, sondern Abkehr von der Moderne. Ein diffuses Überdruß-Gefühl, wie es damals im deutschen Bürgertum weit verbreitet war, hatte als bedeutendsten Verkünder und Propheten Julius Langbehn (1851 – 1907), den später die Nazis als geistigen Wegbereiter feierten. Die ersten Worpsweder Maler waren begeisterte Langbehnianer – ihr Auszug in das »primitive« Moordorf und ihre ganze künstlerische Existenz dort lassen sich ohne den Hintergrund der kulturpessimistischen Bewegung gar nicht verstehen.

»Der Kulturpessimismus ist ein völkisch-nationaler Irrationalismus, der nicht zufällig im ›Dritten Reich‹ gemündet und gestrandet ist«, hat der Historiker Norbert Frei geschrieben. Und der Soziologe Ralf Dahrendorf hat ihn als »pathologisches Syndrom« bezeichnet, »das älter als der Nationalsozialismus ist und diesen zugleich überlebt hat«. Zu den führenden Ideologen des Kulturpessimismus gehören neben Julius Langbehn auch Arthur Moeller van der Bruck und Paul de Lagarde, für deren Wirken auch der Begriff »Konservative Revolution« steht.

Kulturpessimismus und Konservative Revolution waren Reaktionen auf die späte und deswegen sehr stürmisch verlaufende Industrialisierung in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser Umbruch verschärfte die Klassengegensätze, ließ neue übervölkerte, schmutzige und laute Riesenstädte entstehen, zersiedelte und zerstörte Landschaften und ließ uralte vorindustrielle Traditionen und Lebensformen samt ihren Werten untergehen.

Die kulturpessimistische Bewegung, die sich mit einem völkisch-mystischen Nationalismus verband, hatte schnell die Schuldigen für die Misere gefunden: den Sozialismus, den Liberalismus, die Bourgeoisie, das Manchestertum, die Säkularisierung, den Parlamentarismus, das Parteienwesen, aber auch jede Form von Rationalismus und Intellektualismus, also auch die Wissenschaft. Und letztlich waren die Juden an allem schuld, in denen man die Verkörperung der Moderne schlechthin sah.

Viele Deutsche waren überzeugt, dass die ganze Entwicklung in Deutschland zutiefst »undeutsch« sei und das »deutsche Wesen« dabei immer größeren Schaden erleide. Mehr als ein »Zurück zum Alten« konnten die Ideologen des Kulturpessimismus aber nicht anbieten.

Langbehn hatte seine Botschaft in dem 1890 erschienenen Buch »Rembrandt als Erzieher« niedergelegt – einem skurrilen, wirren, völlig irrationalen Werk, das aber bis 1945 an die hundert Auflagen erlebte und allein damit bewies, wie richtungweisend es für die Zeit war. Langbehn strebte darin eine neue und endgültige Reformation an, die die irrationalen Kräfte des Volkes und seine alten Werte wiedererwecken sollte, die er unter den Schichten der überzüchteten Zivilisation begraben sah.

Der Bauer war für Langbehn der Menschentyp, der seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hatte und – unbefleckt von der Zivilisation – in seinem Boden verwurzelt geblieben war. Von der Dekadenz der großen Städte nicht infiziert lebte er noch in einer »gesunden« und »organischen« Dorfgemeinschaft. Der vollkommenste und edelste bäuerliche Menschentyp kam für ihn aus »Niederdeutschland«, womit er die nordwestdeutsche Tiefebene meinte. Langbehn schrieb dazu: »Ariertum, Deutschtum, Aristokratismus sind ein- und dasselbe. Die Wiege des Ariertums ist der gesamte germanische Nordwesten, das heißt Niederdeutschland; hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß eine Erneuerung des Deutschtums zunächst an Niederdeutschland anknüpfen muss; von da, wo ein Volk geboren ist, wird es auch wiedergeboren.«

Für Langbehn gab es einen Idealtyp des niederdeutschen Menschen, der alle vorzüglichen und edlen Eigenschaften dieser Rasse in sich vereinigte und das Vorbild für die Gesellschaft der Zukunft abgab: den niederländischen Maler Rembrandt (1606–1669), seinen Titelhelden, der auserwählt war, das Rettungswerk zu vollbringen, das Langbehn vorschwebte: Erlösung durch die Kunst.

Fritz Mackensen hat selbst bekannt, wie sehr ihn und die anderen Maler dieses Buch beeinflußt hat: »Langbehns Buch ›Rembrandt als Erzieher‹ haben wir sozusagen verschlungen. Wir lebten in dem Gedanken, daß Rembrandt auf derselben geographischen Linie geboren ist und gelebt hat, auf der Worpswede liegt.«

Wie der völkische Irrationalismus, dem die Worpsweder Maler der ersten Generation anhingen, zwangsläufig ins »Dritte Reich« mündete, mußte auch ihre Kunst notwendig ins faschistische Fahrwasser geraten. Wenn sie von Seiten der Nazis größte Aufmerksamkeit und Wertschätzung sowie höchste Ehren empfingen, dann war dies das Ergebnis des langen Prozesses, der schon mit der Gründung der Künstlerkolonie im Protestgeist des Kulturpessimismus gegen die wilhelminische Gesellschaft begonnen hatte. Nicht zu Unrecht zählten die Nazis diese Künstler zu einer Tradition, an der sie selber anknüpfen wollten. Dazu gehörte auch die Rasse-Ideologie. Da seit Langbehn »niederdeutsch« und »arisch« gleichgesetzt wurden und die Worpsweder als Hauptvertreter der »niederdeutschen« Schule galten, wurden sie selbst und ihre Kunst jetzt auch als »rassisch« einwandfrei eingeschätzt – eben als »deutsch« und »nordisch«, wie der Kunsthistoriker Kai Artinger konstatiert.

So schrieb der NS-Kulturfunktionär Rolf Hetsch über Otto Modersohn: »Er ist Niederdeutscher von Geblüt, mit allen Fasern seines Herzens im heimischen Boden wurzelnd.« Und in der Zeitschrift Kunst im Dritten Reich pries er Fritz Mackensen: »Er hat als erster Künstler unseren Blick auf die einzigartige Schönheit eines vor ihm unbekannt gebliebenen Stücks unseres Heimatbodens gelenkt, das unsere bewundernde Liebe für immer verdient. Und mit der Schönheit der Scholle hat er den auf ihr gewachsenen, in hartem Lebenskampf fest in ihr wurzelnden Volksstamm nicht allein künstlerisch entdeckt, sondern ihn auch als die in ihrer unbeugsamen Haltung und ihrer erdverbundenen Herkunft ewige Idee des nordischen Menschentums uns nahe gebracht.«

1938 verkündete Gaukulturwart Friedrich Esser auf einem Kameradschaftsabend in Worpswede: »Die Umwälzung des Nationalsozialismus bedeutet auch Wiedergeburt der deutschen Volkskultur. Sie kann nicht geschehen ohne Beachtung der Vergangenheit. Von diesem Standpunkt aus muß auch Worpswede gewertet werden. Deutscher Geist und völkisches Empfinden, wie sie die ersten Worpsweder offenbarten, sind noch nicht gestorben.« Die Traditionslinie war also klar und eindeutig.

Die Worpsweder Maler der ersten Generation mußten keine spektakulären Blut- und Bodenbilder malen. Sie waren Vorzeigekünstler der neuen Herrscher. Stilistisch eckten sie nicht an, weil die Nazis ihre naturalistische Darstellungsweise akzeptierten. Gefällig wirken die meisten Bilder dieser Schule auch heute noch. Und im Dorf ist man auch darauf stolz, daß der Dichter Rainer Maria Rilke zeitweise in diesem Kreis verkehrte (er heiratete hier die Bildhauerin Clara Westhoff) und daß Paula Modersohn Becker aus ihm hervorging – die aber durch die Eindrücke, die sie in Paris empfing, künstlerisch andere Wege fand.

Schon kurz nach dem Machtantritt der Nazis gründete Mackensen in Worpswede die Ortsgruppe des »Kampfbundes für Deutsche Kultur«. Diese von Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg gegründete Organisation hatte es sich zum Ziel gesetzt, die deutsche Kultur von allem »Undeutschen« zu befreien, also Bibliotheken, Museen und Galerien zu »säubern«. Der »Kampfbund« war maßgeblich an den Bücherverbrennungen in vielen Städten des Reichs beteiligt. Mackensen besorgte die kulturellen »Säuberungen« im Moordorf.

Im April 1934 wurde in Bremen eine »Nordische Kunsthochschule« eröffnet. Mackensen wurde ihr erster Direktor. Er entwickelte das Konzept und den Studiengang auf völkisch-nationalsozialistischer Grundlage. In einem Geleitwort für die Satzung schrieb Mackensen: »Die Nordische Kunsthochschule ist eine staatliche Einrichtung der Freien Hansestadt Bremen. Sie soll, schöpfend aus dem Urgrunde deutsch-nordischen Volkstums, mitarbeiten am Aufbau arteigener Kultur im Sinne Adolf Hitlers. Sie soll aus Blut und Boden heraus zu dem Erlebnis führen, daß die tiefste Wahrheit der sichtbaren Natur zugleich das tiefste Geheimnis birgt.«

In seiner Eröffnungsrede wurde Mackensen noch deutlicher. Neben Adolf Hitler pries er indirekt auch den »Rembrandt-Deutschen« Julius Langbehn und dessen niederdeutsche Ideologie: »Der Absturz der deutschen bildenden Kunst ins Wesenlose hat schon vor dem Krieg begonnen und ist nach dem Zusammenbruch ins Grenzenlose gesteigert. Alles Arteigene wurde verdammt, alles Bodenständige als rückständig verschrien. Unsere alte Volkskrankheit, anderen Völkern in geistigen Dingen nachzulaufen, statt gläubig aus dem eigenen Volksempfinden zu schaffen, war schlimmer in Erscheinung getreten denn je. Daneben hat sich der schlimmste Dilettantismus breit gemacht. Alles schien verschüttet; da kam der Durchbruch der Deutschgläubigkeit Adolf Hitlers, und nun werden alle Kräfte frei, die in zäher Arbeit es unternehmen müssen, aus diesem Sumpf der geistigen Erkrankung herauszukommen. Es liegt nichts näher, als das herbe niedersächsische Volkstum in niedersächsischer Landschaft mit vor Hitlers Wagen zu spannen, in allen Dingen, so auch in der bildenden Kunst.«

Mackensen, der sich ganz in den Dienst des Systems stellte und für den Reichsarbeitsdienst heroische Propaganda-Bilder malte, gehörte zu den »Gottbegnadeten«. Das Reichspropaganda-Ministerium hatte eine »Gottbegnadeten-Liste« (auch »Führerliste« genannt) erstellt, die die für Hitler und Propagandaminister Josef Goebbels wichtigsten Künstler enthielt. Goebbels verlieh ihm zudem die höchste kulturelle Auszeichnung des Hitlerstaates, die Goethe-Medaille. Sein Kollege Modersohn erhielt zum 75. Geburtstag dieselbe hohe Ehrung und obendrein von Hitler persönlich noch den Professoren-Titel.

Über mangelnde staatliche Ehrungen konnten sich die beiden bedeutendsten Maler der ersten Generation der Worpsweder Künstlerkolonie also nicht beklagen.

Andere Maler der Kolonie waren früh verstorben: Fritz Overbeck 1909, Hans am Ende 1918 und Carl Vinnen 1922. Heinrich Vogeler war einen anderen politischen Weg gegangen, er hatte sich dem Kommunismus angeschlossen und starb 1942 in einem Dorf in Kasachstan.

Wie steht man heute im Dorf selbst zur eigenen Geschichte? Die historischen Fakten werden meist negiert oder verfälscht. Die gängige Literatur – mit wenigen Ausnahmen – spart die völkischen Ansätze bei der Entstehung der Kolonie, also Langbehn und den Kulturpessimismus, aus. Auch die überaus enge Affinität der ersten Generation der Worpsweder Maler zum Nazi-Regime übergeht man möglichst. Die volle historische Wahrheit zuzulassen, wäre das Ende des Mythos Worpswede. Er würde kollabieren. Ort und zahlreiche Anhängerschaft müßten sich eine neue Identität suchen, die alte wäre nicht mehr tragbar. Natürlich könnte man die alten Bilder noch zeigen und sich an ihnen erfreuen, aber man müßte sie mit entsprechenden Fußnoten oder Schrifttafeln versehen, die die Worpsweder alte Kunst in ihren wirklichen historischen Kontext stellen würden.

Vier Arten der Schuldabwehr und Verdrängung lassen sich in Worpswede und bei der »Gemeinde« der Anhänger registrieren:

Erstens die Flucht in die Geschichtslosigkeit. Die Geschichte der Worpsweder Kunst wird entpolitisiert und aus ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Bezügen gerissen. Gesicherte geschichtliche Fakten werden gar nicht zur Kenntnis genommen, weil sie nicht ins eigene Bild passen. Die ersten Maler der Kolonie werden dadurch in den Rang zeitloser Klassiker erhoben, als hätten sie in einem unpolitischen und geschichtslosen Raum gelebt und gearbeitet.

Die zweite Art der Verdrängung ist die Flucht in Widerstandslegenden. Wenn man die Männer des 20. Juli 1944 oder die Geschwister Scholl auf seiner Seite hätte, wäre man aus dem Dilemma mit der Vergangenheit heraus, hat sich schon mancher in der Bundesrepublik gedacht. Einen solchen Versuch unternahm auch ein Worpsweder Dorfschulmeister im Ruhestand, der sich als Historiker betätigt und mit der erstaunlichen These an die Öffentlichkeit trat, die Geschwister Scholl hätten 1938 und 1939 bei ihren Besuchen in Worpswede im Gespräch mit dortigen Künstlern und Schriftstellern Anregungen zu ihrem Widerstand in der »Weißen Rose« erhalten. Ging der Geist des Widerstandes bis zum 20. Juli also wirklich ausgerechnet vom »niederdeutschen« Worpswede aus? Belege konnte der Dorfschulmeister für seine These nicht beibringen, und so erntete er Kopfschütteln und Spott.

Die dritte Art der Verdrängung ist die direkte Geschichtsfälschung. Sie lag vor, als Nürnberger Ausstellungsmacher ihr Projekt »Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Künstlerkolonien in Europa« auch für Worpswede unter das Vorzeichen des europäischen Gedankens stellten. Es wurde also behauptet, daß die Künstlerdörfer, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten, aus dem europäischen Gedanken einer grenzüberschreitenden Kunst hervorgegangen seien und schon so etwas wie das Ziel der europäischen Einigung vorweggenommen hätten. Das mag für viele andere Kolonien zutreffen, für Worpswede stimmt es mit Sicherheit nicht, weil hier das völkisch-nationalistische Element und die Idee einer lokalen Kunst, die eng mit der Heimatbewegung verbunden war, den Ausschlag für die Gründung der Kolonie und für ihr Weiterbestehen gaben. Die Worpsweder werden das Etikett über der Nürnberger Ausstellung dennoch mit Freuden begrüßt haben, weil der Ort mit der heiklen Geschichte so eine willkommene Entlastung erfuhr.

Die vierte Variante der Verdrängung ist die Flucht in die Anekdote oder das schlicht Banale. Sie ist in Worpswede sehr beliebt. Man kann sie auch die »Stammtisch-Methode« nennen. So erntet man etwa mit allem, was man über Mackensen oder Modersohn oder ihre Kunst im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus sagt, gleich Widerspruch mit dem Argument: »Das stimmt alles nicht. Ich habe die beiden doch noch persönlich gekannt.« Oder: »Mein Vater hat die beiden noch gekannt, und der hat mir erzählt ...«

Worpswedes berühmteste Anekdote schildert die Entstehung der Künstlerkolonie ganz anders, ganz menschlich: 1884 lernte der Student Fritz Mackensen in Düsseldorf die Worpsweder Kaufmannstochter Emile Stolte, genannt Mimi, kennen, die ihm begeistert von ihrem Moordorf erzählte. Mackensen fuhr hin, kam wieder, blieb – und das war der Anfang der Künstlerkolonie. Wie man sieht, geht es auch ganz ohne Bezug auf Langbehn und den Kulturpessimismus, und auch das Nazi-Regime kann man so umgehen.

Gespräche mit älteren und jüngeren Bewohnern Worpswedes führen immer zu dem Resultat, daß es im Dorf – zumindest unter den Künstlern – keine Nazis gegeben habe, ob in der Partei oder in anderen NS-Organisationen. Selbst für Mackensen wird das bestritten, obwohl er sich Zeit seines Lebens eindeutig geäußert hat – auch noch nach 1945. Damit bestätigen sich die Forschungsergebnisse, die der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Buch »Opa war kein Nazi« veröffentlich hat. Die meisten Deutschen sind der Meinung, daß es in der eigenen Familie keine Nazis gegeben habe, ja, man macht die eigenen Familienmitglieder eher zu Regimegegnern oder Widerständlern. Sieht man die Bewunderer und Verehrer der Worpsweder Kunst als »große Familie« oder befragt einzelne Künstlerfamilien, treffen Welzers Befunde genau zu. Man ist hier auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nach dem Krieg noch unfähig zu trauern ...