»Britannien ist zweifellos das beste Land Europas«, verkündete Lady Thatcher im ausgehenden 20. Jahrhundert. Zu jenem Zeitpunkt lebte ich einige Meilen entfernt von Brighton, und in dem beliebten Seebad erlebte ich 1997 auch die Jubelfeiern, als »New Labour« unter Tony Blair einen überwältigenden Wahlsieg errungen hatte. Bunte Gruppen des in Thatchers Regierungszeit entstandenen Dienstleistungsprekariats, die sogenannten working poor – darunter Kellner und Kassiererinnen – fuhren in offenen Doppeldeckerbussen durch die Stadt und feierten hoffnungsvoll das vermeintliche Ende der seit 1979 von der Falklandkriegerin Margaret Thatcher durchgesetzten, extrem neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Großbritannien konnte zwar kurz vor dem Millennium dank seinem Nordseeöl und der prosperierenden Finanzindustrie steigende Staatseinnahmen und zig-millionenhohe Jahresboni der Investmentbanker vorweisen, aber die extreme Kluft zwischen Arm und Reich, das heruntergekommene Gesundheitssystem, das klassengesellschaftlich organisierte Bildungssystem, die dramatisch steigende Altersarmut und andere Ungerechtigkeiten mehr machten es für die Bevölkerungsmehrheit am Ende der Thatcher-Regierungszeit zweifellos nicht zum besten Land Europas.
Die Jubelfeiern nach dem Wahlsieg von »New Labour« liegen nun 13 Jahre zurück, und die von deren »Architekten« Tony Blair und Gordon Brown geführte Regierung ist durch die für britische Verhältnisse noch gewöhnungsbedürftige Koalition von Tories und Liberaldemokraten unter dem neuen Premier David Cameron abgelöst. Auf die Wahlsieger warten – unabhängig von ihren ohnehin lediglich auf Wechsel des Politpersonals hinauslaufenden Wahlversprechen – große Herausforderungen. Die Verschuldung des Staates sowie die der Privathaushalte ist hoch, das Haushaltsdefizit erreicht griechische Dimensionen, die Finanzindustrie ist schwer angeschlagen, das Nordseeöl sprudelt nicht länger, und generell haben sich die Zukunftsaussichten weiter getrübt.
Fest steht erst einmal: »New Labour« ist samt dem viel beschworenen (von Ex-Kanzler Gerhard Schröder mitproklamierten) »Dritten Weg« Geschichte. Für das Scheitern der vor 13 Jahren mit großen Versprechen angetretenen sozialdemokratischen Regierung »jenseits von links und rechts« gibt es diverse Gründe. So gelang die den Wählern versprochene große Sozialreform nicht; ein »New Deal« blieb aus. Die Gruppe der wirtschaftlich ausgegrenzten Menschen ist sogar auf rund sechs Millionen gestiegen, und die Zahl der Wohlfahrtsempfänger liegt inzwischen höher als 1997. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft trotz einiger Maßnahmen wie Mindestlohn und Steuererleichterungen für die working poor noch weiter auseinander, das Bildungssystem verdankt seinen Glanz nach wie vor den Privatschulangeboten, die auf zahlungskräftige Eltern zugeschnitten sind. Immerhin wurde das Gesundheitssystem verbessert (die Wartezeiten für Operationen wurden reduziert); aber das zusätzliche Geld fließt zum großen Teil in Verwaltung und unsinnige Informationstechnik. Daß sich England unter »New Labour« zum Nannystate wandelte, der seine Bürgerinnen und Bürger unter anderem durch massenhaft installierte Videoanlagen überwacht, ist die innenpolitische Kehrseite einer Außenpolitik des kriegerischen Interventionismus. Die von der Bevölkerung zunehmend kritisierten Militäreinsätze in Bosnien, Kosovo, Sierra Leone, Irak und Afghanistan kosteten vielen jungen Briten das Leben und verschlangen Milliardensummen der im Land selbst benötigten Steuergelder.
Last not least erwies sich Gordon Browns Verheißung, die kapitalistischen Zyklen von boom und bust seien unter der Wirtschafts- und Finanzpolitik von »New Labour« ein für allemal ausgerottet, als fatale (Selbst-)Täuschung. Die Vorhut der Finanzmarktakteure und -spekulanten, die Rating-Agenturen, haben bereits klargestellt, was als bust droht, sollte die neue Koalitionsregierung in London nicht unverzüglich drastische Sparmaßnahmen (sprich: auf Kosten der lohnabhängigen Bevölkerung) einleiten: die Herabstufung der Kreditwürdigkeit Großbritanniens. Jedenfalls könnten sich im Laufe der kommenden Jahre tiefgreifende Wandlungen in der sozio-ökonomischen Lage Großbritanniens vollziehen, die genau jener Großen Depression ähneln, die 1885 der damals in London wohnende Friedrich Engels konstatierte: »Wir leben seit 1876 in einem chronischen Versumpfungszustand aller herrschen Industriezweige. Weder will der vollständige Zusammenbruch kommen noch die lang ersehnte Zeit der Geschäftsblüte, auf die wir ein Recht zu haben glaubten sowohl vor wie nach dem Krach. Ein tödlicher Druck, eine chronische Überfüllung aller Märkte für alle Geschäfte, das ist der Zustand, den wir seit beinahe zehn Jahren durchmachen.«
»New Labour« sieht inzwischen alt aus. Zudem gibt es im Unterhaus noch keine sozialistische Partei wie hierzulande die Linke, die der Labour Party einen Spiegel vorhalten könnte, und selbst die Green Party hat anders als unsere Grünen gerade einmal eine einzige Parlamentsabgeordnete: Caroline Lucas. Sie gewann als erste für Green einen Wahlkreis, weil sie der Labour-Kandidatin 8,5 Prozent der Stimmen abjagen konnte. Dieses als historisch gewürdigte und durchaus fröhlich gefeierte Ereignis kam übrigens in Brighton zustande. Von dort aus ist es auch nicht weit zum Leuchtturm Beachy Head, in dessen Nähe 1895 Engels’ Urne von Eduard Bernstein und anderen dem Meer übergeben wurde.