Es war eine gute Idee des Sprachwissenschaftlers Horst Dieter Schlosser, regelmäßig das »Unwort des Jahres« auszuwählen. In die engste Wahl kamen mittlerweile unter anderem: »ausländerfrei«, »ethnische Säuberung«, »Überfremdung«, »Peanuts«, »Rentnerschwemme«, »sozialverträgliches Frühableben«, »intelligente Waffensysteme«, »Flexibilisierung«, »Kollateralschaden«. Solche »Unworte« sind nicht etwa bloß als sprachliche Mißgriffe zu verstehen und zu belächeln, sondern sie bringen allesamt inhumanes Denken zum Ausdruck. Schlosser und die anderen Mitglieder seiner Jury wollen verhindern, daß sich mit solchen Wortbildungen ein brutaler Sozialdarwinismus in der Gesellschaft weiter ausbreitet.
»Unworte« entstehen nicht von selbst. Sprachliche Waffen gegen die Humanität werden in speziellen Werkstätten geschmiedet. Dort sind Fachleute für Semantik am Werke. In Instituten von Unternehmerverbänden und von politischen Parteien arbeiten sie mit Eifer daran, die Sprache in ihrem Sinne zu regeln. Als erstes versuchen sie, uns nützliche Begriffe auszutreiben, solche, die uns helfen können, soziale Zusammenhänge zu durchschauen und uns über unsere Objekt- oder Subjektrolle in diesen Zusammenhängen zu verständigen. So etwas wie »Klassengegensatz«, »Klassenherrschaft« oder gar »Klassenkampf« sollen wir nicht mal mehr denken, geschweige denn aussprechen.
Als »Zauberworte des Zeitgeistes«, die zu »entmystifizieren« seien, nannte Guido Westerwelle 1996 in der Wirtschaftswoche »unsozial«, »Gemeinwohl«, »umweltschädlich« und »frauenfeindlich«. Daran erinnert Klaus Höpcke in seinem neuen Büchlein »Wort und Widerwort«. Ein anderer Sprachregler, den Höpcke nennt, ist Eberhard von Kuenheim (BMW-Konzern), der 1995 in einer Veröffentlichung des Bundesverbandes deutscher Banken erklärte: »Jeder von uns weiß, daß das überalimentierte Sozialsystem sich wandeln muß. Wegen aus ideologischen Gründen bestehender Tabus wagen wir aber höchstens vom Umbau zu sprechen, obwohl wir hier alle wissen: Nur der Abbau steht zur Diskussion.« Also vorsätzliche Täuschung. Tatsächlich wurde jahrelang der Abbau sozialer Errungenschaften als »Umbau« schöngeredet; wechselnde Bundesregierungen und tonangebende Journalisten befolgten zuverlässig diese Sprachregelung.
Die propagandistischen Interessenvertreter der real existierenden Kapitalherrschaft ächten Begriffe wie »Ausbeutung«, verschleiern die tatsächlichen Verhältnisse, verkehren Sachverhalte mit sprachlichen Mitteln ins Gegenteil, verwirren und lähmen unser Denken, zerstören unsere Fähigkeit, eigene Interessen zu artikulieren. Sie sagen »Senkung der Kosten, die den Faktor Arbeit belasten«, wenn sie schlicht Lohnkürzungen meinen, sie werben für »Ausgabenreduzierung in den Sozialversicherungen«, wenn sie uns soziale Sicherheiten nehmen wollen.
Als die NATO 1999 den Bombenkrieg gegen Jugoslawien begann, beschimpfte der damalige Staatssekretär im sogenannten Bundesverteidigungsministerium Hans Rühle jeden, der Bombenangriffe Bombenangriffe nannte, und verlangte, wir müßten stattdessen »Luftschläge« sagen. Der Krieg gegen den Irak, in den wir 2003, wenn sich die CDU/CSU durchgesetzt hätte, an der Seite der USA gezogen wären, sollte, wie die Unionsparteien verlangten, zur »begrenzten Strafaktion gegen militärische Objekte« verharmlost werden – ein Krieg, in dem inzwischen viele Hunderttausende Menschen getötet, mehrere Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden und das vormals reiche Land abgrundtief verarmte. In dieser Kriegszeit hat die Propaganda systematisch die Sprache vergiftet. Nicht nur einmal im Jahr, jede Woche könnte und sollte die Jury des Professors Schlosser ein »Unwort« kenntlich und damit möglichst unschädlich machen.
Noch einige Beispiele aus Höpckes Sammlung: Mit »abwickeln« ist laut Wörterbuch »ein Geschäft ordnungsgemäß erledigen« gemeint. Zwischen Elbe und Oder, schreibt Höpcke, habe man das ganz anders erlebt: vom »eigenen Rausschmiß aus Betrieben und Instituten bis zu deren Liquidierung«. Die »lieben Brüder und Schwestern im Osten«, jahrzehntelang bei jeder Gelegenheit verbal umarmt, sind längst aus der Sprache der Herrschenden verschwunden. Nach und nach wurden sie vielmehr als Mitschuldige eines »Unrechtsstaates« verdächtigt. Befragt, was das sei, ein »Unrechtsstaat«, antwortete 2008 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages: »Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs ›Unrechtsstaat‹ gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.« Es gehe »zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren.« Die Fragestellerin Gesine Lötzsch (Die Linke) schloß daraus: »Der ›Unrechtsstaat‹ ist ein propagandistischer Kampfbegriff, der nicht aufklären, sondern brandmarken soll.«
Als Kampfbegriff erweist sich bei genauer Betrachtung auch manches wohlklingende, scheinbar wohlwollende, gute Wort wie zum Beispiel »Sozialpartnerschaft«, worüber Rolf Hochhuth schon vor Jahrzehnten schrieb: »Sozialpartnerschaft, dies böseste Wort, ist eine Schlaftablette, in jedem Betrieb gratis verteilt, die den fleißigen brauchbaren Habenichts in den Traum vom sozialen Frieden entrückt, währenddessen die reichen Asozialen die totale Machtergreifung vollziehen ...«
Schade, daß ein Buch, das sich kritisch mit der Sprache befaßt, so wenig sorgfältig lektoriert ist. Mit Recht warnt Höpcke – übrigens bis 1989 in der DDR-Regierung für die Literaturproduktion verantwortlich und in dieser Funktion nicht ohne Verdienste (die wir freilich nicht erkennen oder gar anerkennen können, wenn wir fest zu wissen glauben, daß die DDR in jeder Hinsicht ein »Unrechtsstaat« war, in dem niemand irgendetwas Rechtes und Richtiges leisten konnte) – auf den Seiten 22 und 66 vor überflüssigen Fremdwörtern, aber er selber behängt sich mit »transformationstheoretischen Denkweisen« und »gnosiologischer Kraft«. Man stolpert auch über manche Wiederholungen und stellt fest: Es handelt sich um diverse Texte, die eigentlich als Beiträge zur Programmdebatte und Bildungsarbeit der Linkspartei gedacht waren. Zum Thema Sprachverdrehung empfehle ich weiterhin auch das 2003 von der IG Metall in Hannover herausgegebene »Falschwörterbuch«.
Klaus Höpcke: »Wort und Widerwort – Gegen sprachliches Umdrehen tatsächlicher Verhältnisse«, Verlag Am Park, 100 Seiten, 9.90 €