»Man möchte kotzen vor Glück über die Auswahl der Theatertreffen-Jury 2010«. So überschreibt Jury-Mitglied Wolfgang Höbel im Theatertreffen-Almanach seine Interpretation der Entscheidungen des siebenköpfigen Teams, das für die Einladung von zehn Inszenierungen zum 47. Berliner Theatertreffen verantwortlich war. Das von ihm für den Titel seines Artikels entlehnte Zitat stammt ausgerechnet aus dem schlechtesten Stück (»Liebe und Geld« von Dennis Kelly) in der langweiligsten Inszenierung (Stephan Kimmig). Spiegel-Redakteur Höbel will in dem Beitrag des Hamburger Thalia-Theaters sogar die Verwandlung in ein »Passionsspiel« gesehen haben (Spiegel 18/10) – eine aberwitzige Fehlinterpretation. Aber das Stück des englischen Dramatikers fügte sich immerhin in den leitmotivischen Trend, der die meisten Stücke als Kommentare zur aktuellen Krise des Kapitalismus erscheinen ließ. Ein anderes Zitat daraus brachte es auf den Punkt: »Ich glaube nicht mehr an Gott; ich glaube jetzt an Geld.«
Nun gehört Kritik an der Auswahl der laut Reglement »bemerkenswertesten« Inszenierungen seit seinen Anfängen 1964 zum Theatertreffen ebenso wie der unterschiedliche Geschmack des Publikums, das ja nicht wie die jeweils wechselnden Juroren das Privileg genießt, sich ein Jahr lang eine Übersicht der deutschsprachigen Bühnenlandschaft verschaffen zu können. Und um meine Meinung vorwegzunehmen: Zum Kotzen fand ich die diesjährige Auswahl keineswegs, von den üblichen glücklosen Ausnahmen abgesehen.
Anders als bisher gab es keine zum Vergleich einladenden Klassiker-Inszenierungen, zeitgenössische Autoren überwogen. Neu war auch eine Internationalität, die sogar eine englischsprachige choreographierte Inszenierung aus den USA (»Life and Times – Episode 1« von Kelly Copper und Pavol Liska) einbezog, zu der sich Akteure eines Off-off-Ensembles aus Oklahoma und dem Wiener Burgtheater vereinten. Ähnlich arbeiteten eine Truppe aus Budapest und das Schauspielhaus Graz zusammen. Schon seit 1980 lädt das Theatertreffen mit Unterstützung des Goethe-Instituts Künstler aus aller Welt nach Berlin ein. Diesmal integrierte es in sein Programm eine dreitägige Fachtagung »Achtung Transit! – Meet International Theatre Makers«. Begegnungen bei interkulturellen Workshops sollen im Idealfall in gemeinsame Projekte münden. Vorbilder kennt man von internationalen Filmfestivals.
Reaktionen des Theaters auf Weltwirtschaftskrisen sind nicht neu. 1932 gehörte dazu Ödön von Horvaths Volksstück »Kasimir und Karoline«. Der abgebaute Chauffeur und seine Verlobte wollen sich eigentlich auf dem Oktoberfest amüsieren. Beide verlieren sich aber immer wieder, am Ende wohl für immer. Beim Theatertreffen war dies ein programmatischer, doch leider schwacher Auftakt. Koproduziert vom Schauspiel Köln und dem belgischen Nationaltheater Gent unter Regie der Holländer Johan Simons und Paul Koek, erstaufgeführt vor einem knappen Jahr beim Festival in Avignon.
Ein junges Paar steht auch im Mittelpunkt von Hans Falladas im gleichen Jahr wie Horvaths Stück erschienenem Roman »Kleiner Mann – was nun?«, und auch hier verliert der Mann seinen Kaufhaus-Job. Aber dieser Kleinbürger Johannes Pinneberg hat in seinem »Lämmchen« eine Frau an der Seite, die ihn immer wieder auffängt. Anders als Peter Zadeks Bochumer Revue-Version von 1972 setzt in den Münchner Kammerspielen Luk Percevals Roman-Adaption ganz auf Falladas humanen Realismus und verleiht ihm ohne modernisierende Mätzchen, manchmal auch humorvoll, bestürzende Aktualität. Als »Lämmchen« einmal überlegt, demnächst die Kommunisten zu wählen, meint ihr Mann: »Vorläufig haben wir ja noch eine Stellung, da ist es ja noch nicht nötig.«
Im Mittelpunkt der leeren Bühne ein riesiges Orchestrion, im Hintergrund flimmern Bilder aus Walther Ruttmanns Doku-Klassiker »Berlin, Sinfonie einer Großstadt« von 1927, und für Zeitkolorit sorgen auch damalige Durchhalte-Schlager wie »Einmal schafft’s jeder« oder »Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück«. Annette Paulmann und Paul Herwig verdienten sich als das tapfere Paar den 3sat-Preis für herausragende künstlerische Leistungen des deutschen Schauspiels.
Den Kontrast zu diesem Menschen-Theater, dessen Figuren im Abstand von 80 Jahren noch immer lebendig sind, lieferte Elfriede Jelineks intellektuell-abstrakter Kommentar zum heutigen Finanzcrash »Die Kontrakte des Kaufmanns – Eine Wirtschaftskomödie«. Zu Beginn der Koproduktion des Thalia-Theaters Hamburg und des Schauspiels Köln tritt der als Jelinek-Spezialist bekannte Regisseur Nicolas Stemann an die Rampe und offeriert dem Publikum, während des vierstündigen pausenlosen Abends könne sich jeder selbst mal eine Pause gönnen und im Foyer etwas trinken oder essen. Die Türen stünden offen. Dann reiht sich der Regisseur ins Schauspielensemble ein, das den Text vom Blatt abliest, mal als Oratorium der Kleinanleger oder als »Chor der Greise«, sprich Bankmanager, dazwischen Musik, Pop-Songs, Vorträge, Videoprojektionen, Schlagzeilen, Verfremdung durch Wolfsmasken, Slapstick, Improvisationen, Luftballons als Symbole der Geldmarktblase. Jelineks Sprachspielereien entlarven die Phrasen, mit denen wir täglich gefüttert werden, aber dadurch wird der Abend mit endlosen Wiederholungen so unterhaltsam wie die Lektüre des Wirtschaftsteils der Zeitungen. Die Autorin hat ihren 99-Seiten-Text noch vor der Weltfinanzkrise geschrieben und bezog ihn ursprünglich auf die österreichischen Skandale der Gewerkschaftsbank Bawag und der Meinl-Bank. Inzwischen rennt Jelinek offene Türen ein, und ein Teil der Besucher war dankbar für die offenen Türen des Zuschauerraums, manche ohne Wiederkehr. Am Ende bot die von Papier übersäte Bühne ein chaotisches Bild, und so wirkte auf mich ohne Erkenntnisgewinn dieser ganze Theatertreffenbeitrag.
Weit amüsanter führt Christoph Marthaler Angehörige des von unseren Politikern gern im Munde geführten Mittelstands als Opfer der Wirtschaftskrise vor. Passender Spielort ist der Hangar 5 des stillgelegten Flughafens Tempelhof mit ungewisser Zukunft. In die große Halle ist der für den Schweizer und seine kongeniale Bühnenbildnerin Anna Viebrock typische Wartesaal integriert. Marthaler nennt sein für die Wiener Festwochen inszeniertes Projekt, das von dort schon über Neapel, Avignon und Tokio tourte, »Riesenbutzbach, Eine Dauerkolonie«, eine vom bürgerlichen Theatertreffen-Publikum wohl kaum entschlüsselte Anspielung auf die hessische Justizvollzugsanstalt Butzbach.
Am Anfang räkeln sich seufzend und gähnend die sechs Frauen des Ensembles auf billigen Möbeln, die später mit dem Aufkleber »Verkauft« allmählich entsorgt werden. Da verwandelt sich der Innenraum auch mal in eine Firma und eine Bank. Am Ende bleiben den ihres Besitzes verlustig gegangenen Bewohnern noch zwei Garagen als Party-Orte. Bei den Marthaler-üblichen Gesangseinlagen taucht als Überlebensmotto immer wieder der alte Bee-Gees-Hit »Staying alive« auf und als ironischer Kontrapunkt das »Fidelio«-Finale von der Lust, in freier Luft zu atmen. Von oben, über allem, hört man gelegentlich einen Pleitegeier krächzen.
Fast präsentierte sich das diesjährige Theatertreffen als Experimentalfestival. Zwei interessante Beiträge beschränkten sich auf die optische Wahrnehmung durch den Zuschauer. Ettore Scolas 1976 in Cannes mit dem Regie-Preis ausgezeichneter Film »Die Schmutzigen, die Häßlichen und die Gemeinen« führte eine sich selbst zerfleischende Großfamilie vor, die am Rande Roms ihr trostloses Leben fristet. Die Intendantin des Schauspiels Köln, Karin Beier, läßt dies als Regisseurin unter dem gleichen Titel in einem deutschen Wohncontainer von heute spielen. Durch dessen Glasscheiben sieht der Zuschauer, wie die vier Generationen verkörpernden dreizehn Akteure an einem Tag von morgens bis abends zwischen Alkohol, Sex und Habgier mehr schlecht als recht miteinander auskommen müssen. Die Übertragung aus dem Milieu eines mehr als drei Jahrzehnte entfernten Italien auf ein Westerwelles Hohn scheinbar bestätigendes deutsches Prekariat von heute bleibt aber ebenso fragwürdig wie ein erzwungener Voyeurismus, der freilich nicht ganz ohne Mitgefühl ist und einer überzeugenden Ensembleleistung gilt.
Ungetrübt von Bedenken sah man dagegen gern einem weiteren wortlosen Beitrag zu. Nach der von ihm erweiterten Vorlage von Peter Handkes nonverbalem Bildertheater »Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten« entfaltet der 31jährige ungarische Regisseur Victor Bodó in Zusammenarbeit mit 16 Akteuren seiner eigenen Budapester Truppe und des Schauspielhauses Graz in Mini-Episoden ein quirliges Großstadtleben, stets beobachtet von zwei Kameraleuten, die per Handycam uns einige Protagonisten in Großaufnahmen auf einer Leinwand näherbringen. Auf einem großen Platz, gesäumt von herausfahrbaren Kojen, die als Café, Büro, Museum oder Zugabteil dienen, tauchen immer wieder ein ratloser Tourist mit Stadtplan und zwei Kanalarbeiter auf. Über die Bedeutung mancher Handlungen der auftretenden Personen und ihre Zusammenhänge mag man rätseln, fühlt sich aber in den musikalisch durch ein Live-Trio akzentuierten 100 Minuten pausenloser Bewegung nie gelangweilt.
Der Titel des von Handke 1992 auf 60 Seiten Regieanweisungen zu Papier gebrachten Stückes ließe sich auch auf jenen Theatertreffen-Beitrag anwenden, der schlicht »Diebe« heißt und Diebe des Lebens meint. In 37 Szenen, die zusammen fast vier Stunden dauern, kommunizieren die kompliziert miteinander verbundenen Personen, je sechs Frauen und Männer, auf die eine oder andere Weise, wissen aber letztlich doch nichts voneinander. Geschrieben hat das Stück Deutschlands erfolgreichste Gegenwartstheaterautorin Dea Loher, inszeniert ihr Lieblingsregisseur Andreas Kriegenburg, der auch das geniale Bühnenbild entwarf: ein die ganze Breite einnehmendes Mühlrad, das sich von Szene zu Szene dreht und jeweils eine Sprosse als Spielfläche freigibt. Auch hier eine unaufdringliche Symbolik: das Rad des Lebens, in dem wir kleinen Menschen wie die Hamster zappeln.
Das von der Redaktion gesetzte Limit verbietet mir leider eine verdiente detaillierte Beschreibung meines haushohen Favoriten dieses Theatertreffens. Aber die bereits am 15. Januar im Deutschen Theater uraufgeführte Inszenierung bleibt hoffentlich noch lange auf dem Repertoire, sie sei den Berlinern und den Touristen empfohlen. Der Erfolg eines wunderbaren Ensembles. Hier geht es zwar nicht um die Wirtschaftskrise, und doch ist dieser auch manchmal absurde Text nahe an unserer Gegenwart. Die Komödie des ersten Teils kippt nach der Pause ganz unsentimental zur Tragödie. Und nachdem man zwei Stunden immer wieder gelacht hat, ist einem am Ende der Gesellschafts- und Lebensparabel zum Heulen zumute. Es gibt ihn noch nach vielen Enttäuschungen unseres Bühnenalltags: den Zauber des Theaters. Inmitten dieses Theatertreffens ein Theaterwunder.