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... Als wäre Fukushima nicht gewesen  (Volker Bräutigam)

Noch vor einem Vierteljahr galt ein Ausstieg aus der Atomenergie als ausgeschlossen. Seit Fukushima aber sucht die deutsche Energiewirtschaft vorsorglich neue Profitquellen. Werden nun bald alle Atomreaktoren abgeschaltet? Manche Grünen mögen daran glauben. Ich nicht.

Am 14. März, drei Tage nach Beginn der Strahlen-Katastrophe in Japan, vollzog Bundeskanzlerin Merkel ihre verbale Kehrtwende: Das Ereignis lehre, daß selbst Risiken, die als unmöglich galten, nicht vollends auszuschließen seien. Eine »rückhaltlose Prüfung ohne Tabus« sei fällig: »Im Zweifel für die Sicherheit.« Die alten Atomkraftwerke seien während eines dreimonatigen Moratoriums abzuschalten und sämtliche 17 Reaktoren seien einem »Streßtest« zu unterziehen; eine Ethik-Kommission solle der Regierung Vorschläge für den weiteren Umgang mit der Atomkraft machen.

Berliner Bekenntnisse zur Energiewende samt entsprechender Phrasendrescherei scheinen seither kein Ende zu nehmen. Ökofreaks beleben mit Luftballon-Aktionen und farbenfrohen Aufmärschen an den Wochenenden – beileibe nicht werktäglich und mit Arbeitsniederlegungen – Straßen, Plätze und Nachrichtensendungen. Vor Mediendunst und politischer Wolkenschieberei erkennt nur noch eine kleine kritische Minderheit, daß die geringen Chancen zur Runderneuerung unseres Energieversorgungssystems schon wieder mit Fleiß vertan werden. Von einer demokratisch kontrollierten Non-Profit-Energieversorgung spricht ohnehin niemand.

Schon zwei Monate nach Merkels »Im Zweifel für die Sicherheit« rechtfertigen die Reaktor-Sicherheits-Kommission (RSK) und Umweltminister Norbert Röttgen alle Zweifel an der Seriosität des energiepolitischen Regierungshandelns. Ihr sogenannter »Streßtest« basierte auf veralteten Sicherheitsstandards und bestand lediglich aus einem Fragebogen, den die AKW-Betreiber selbst beantworten durften (Themenbereiche: Gefährdung durch Naturkatastrophen, gezielte Angriffe, Unfälle im Kraftwerk).

Die RSK, zusammengesetzt aus regierungs- und atomwirtschaftsnahen Leuten, entschied nach Aktenlage – echte Kontrollen »vor Ort« waren ausgeschlossen – und ohne Rücksicht auf auch in Deutschland nicht zu ignorierende AKW-Risiken (zum Beispiel extreme Erdbeben im Oberrheingraben): Kein Grund zur Eile beim Atomausstieg, hierzulande ist alles sicher, kein Anlaß zur Besorgnis. Minister Röttgen: »Das ist meine Auffassung, daß die Arbeit der Reaktor-Sicherheits-Kommission eine ganz wesentliche Basis ist, auf deren Grundlage dann eine gesellschaftliche politische Wertung erfolgt.« Alles klar?

Einen Tag nach der RSK veröffentlichte die atomkritische Ãrzteorganisation IPPNW das Konzept für einen AKW-Streßtest, der diesen Namen verdient. Er umfaßt die Themen »Schutz gegen Erdbeben, Flugzeugabsturz, Beschuß; Schutz gegen extreme Wetterereignisse; interne, redundanzübergreifende Ereignisse; verbesserte Notstandssysteme; Notfallmaßnahmen; Kernschmelzfestigkeit; Kühlsysteme; Stromversorgung; Abschaltsysteme; Meßwerterfassung, Leittechnik und Reaktorschutz; Werkstoffe, konstruktive Ausführungen, Schweißnähte; zusätzliche Barrieren gegen Freisetzungen von Radioaktivität. Die Ärzteorganisation kommt zu dem Schluß, daß »alle deutschen Atomkraftwerke unter zahlreichen Kriterien nicht den sicherheitstechnischen Anforderungen genügen, die nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik zu stellen sind«.

Man braucht keine prophetischen Gaben für die Vorhersage, daß auch die Merkelsche Ethik-Kommission, wie die RSK, nur ein paar Feigenblätter liefern wird, mit denen die Regierung hernach die Überlebensgarantien für die AKW-Betreiber verbrämt. In geordneten Konkurs gehen die nicht, auch wenn es zum aus ihrer Sicht radikalsten Beschluß käme: endgültige Abschaltung der sieben Alt-Meiler plus Krümmel sofort und für die übrigen neun AKW das Aus innerhalb von zehn Jahren (bis zum Jahr 2021 gemäß dem ursprünglichen »rot-grünen Atomkonsens«).

Die Energiemonopolwirtschaft läuft nun Sturm. Sie droht mit Regreßklagen im Falle des Widerrufs der genehmigten Laufzeitverlängerungen; ihre massive Lobbyarbeit im Parlament zeigt erste Wirkungen bei Union und FDP. Zugleich wird die Kundschaft, ohnehin Opfer exorbitanter Preistreiberei der Monopolisten Vattenfall, e.on, EnBW und RWE, mit Androhung einer »Preisexplosion« sowie dem Zusammenbruch der Stromversorgung im Falle eines Ausstiegs aus der Atomkraftnutzung unter Druck gesetzt. Kritische Expertenhinweise, ein Ausstieg sei ohne Versorgungslücken auf der Basis drastischer Energiesparprogramme schon bis 2015 möglich und gut finanzierbar, werden mit Schadenersatzansprüchen in Milliardenhöhe gekontert.

Und Berlin springt bei. Unter dem Deckmantel ökologischer Modernisierung sozialisiert die Bundesregierung bereits hypothetische Verluste der privaten Energiewirtschaft und lockt mit neuen Absatzmärkten: Eine Milliarde Euro Steuergeld soll die Automobilkonzerne zu Investitionen ins Elektromobil bewegen, obwohl der dafür ausreichende »saubere« Strom noch gar nicht fließen kann. Die Strom-Monopolisten dürfen weiterhin die Hand auf den Stromnetzen halten, den Zufluß Erneuerbarer Energie und die alternativ wirtschaftende Konkurrenz behindern.

Die nach Fukushima gegebene Chance zur epochalen Energiewende ist dahin. Eine ökologische Energieversorgung mit Strom und Fernwärme aus dezentral übers Land verteilten, kleinen, vernetzten und mit 85 Prozent hocheffizienten (Bio-)Gas-Blockheizkraftwerken, genossenschaftlich organisiert, wird nicht aufgebaut. Die Monopolisten mit ihren zentralen Großkraftwerken können bei einer Energieausbeute von maximal 40 Prozent bei Kohle- oder Öl-Verfeuerung weiterhin mit Megatonnen Kohlendioxid das Klima gefährden oder mit radioaktiven Spaltprodukten aus den Atomkraftwerken die Zukunft von Mensch und Mitwelt bedrohen; sie können mit der »Restwärme« aus ihren Großkraftwerken unsere Flüsse aufheizen, einen erheblichen Teil ihres Stroms auf langen Transportwegen mit verschwenderischer Technik (Wechsel- statt Gleichstrom) vergeuden – und dennoch, dennoch! satte Profite herausschinden.

Die staatlich geförderte Sucht nach Großanlagen zwecks maximalen Profits bestimmt allerdings auch das Vorgehen unserer Alternativen Energiewirtschaft. Zwei Beispiele: Konzerne kaufen Ackerflächen für gigantische Solarstromfarmen auf und übervorteilen dank staatlich garantierter Höchstpreise den Verbraucher. Biogasanlagen verwerten nicht nur Gülle und Pflanzenabfälle, sondern auch Weizen, Mais und Raps aus riesigen Monokulturen. Feldfrüchte für Strom statt Nahrung.

Das Gerede über die Zukunft unserer 17 kommerziellen Atomkraftwerke lenkt zugleich höchst wirksam davon ab, daß niemand an die Abschaltung der elf deutschen Forschungsreaktoren denkt. Darunter der skandalträchtige Forschungsreaktor München II. Er leistet zwar nur 20 Megawatt, verwendet aber hochangereichertes Uran und produziert atomwaffenfähiges Material, und dies unter tückisch-trickreicher Umgehung aller internationalen Verträge, die auch Deutschland unterschrieben hat. Die Bundesregierung erlaubt sich damit seit Jahren, was anzustreben sie dem Iran beweislos unterstellt – und marschiert frech den Erpressernationen voran, die den Iran per Wirtschaftsembargo strangulieren.