Mähen und Häckseln
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung fragte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, welche »Handschrift« in seiner Amtsführung erkennbar werden solle. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger wolle er neu gestalten, antwortet Friedrich. Im 19. Jahrhundert sei »die Bedrohung des Einzelnen vom übermächtigen Staat ausgegangen«, heute gehe sie von »Terroristen und Kriminellen« aus. Und in der Zwischenzeit, im 20. Jahrhundert, war da nicht was? Friedrich hat diese Zeit so im Geschichtsbewußtsein: »Es war ... oft schick, alle Autoritäten in Staat und Gesellschaft in Grund und Boden zu stampfen«, nicht nur »die Achtundsechziger« hätten dieses Spiel betrieben. Das müsse nun anders werden, der Bürger habe zu begreifen: Dem Staat schulde man »Loyalität und Mithilfe«.
Wie kommen wir dahin? Friedrich wünscht sich »das Singen der Nationalhymne als Gemeinschaftserlebnis, eine Fahne vor dem Haus als Zeichen einer gemeinsamen Identität«. Und selbstverständlich den Fortbestand der »Anti-Terror-Gesetze«.
Eigentlich wäre er gern Gärtner geworden, erzählt der Bundesinnenminister. Früher, noch in Bonn, sei er durch die Rheinauen gefahren, mit dem Fahrrad, und habe die Gärtner dort beneidet. Die hätten »Rasen gemäht oder Holz gehäckselt, der Job hat was«.
Daß Gärtner Bäume setzen und pflegen, ist Friedrich nicht eingefallen. Auch nicht, daß es in Deutschland – das 19. Jahrhundert war schon vorbei, 1968 aber noch nicht erreicht – einen Staat gab, der Drohungen aussprach und diese in die Tat umsetzte. Auch da wurde die Nationalhymne gesungen, und Fahnen flatterten über den Häusern. Und es wurde gemäht und gehäckselt.
Clara Tölle
Fortsetzung des Geschäfts
An Glamour liegt ihm nichts, dem jetzigen Militärminister der Bundesrepublik, neofeudal trat er nicht auf, als er die neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vorstellte, anders als sein Vorgänger betreibt er sein Dienstgeschäft ohne Allüren.
Und so fiel es nicht auf, daß er die deutsche Militärdoktrin endgültig auf eine gewalttätige Vertretung wirtschaftlicher Interessen weltweit umdefinierte. Das Grundgesetz kommt gar nicht mehr in Betracht, »Handelswege« und »Rohstoffversorgung« gilt es zu sichern, ganz selbstverständlich mit dem Einsatz von Waffen. Der vielzitierte Clausewitz-Grundsatz hat seine zeitgemäße Fortentwicklung gefunden: Krieg ist eine bloße Fortsetzung des Geschäfts unter Einbeziehung anderer Mittel.
»Viele denkbare Fälle« sieht de Maizière für einen deutschen Militäreinsatz, und zwar »mehrere gleichzeitig«, die »Hürden« müsse man senken. Selbst »Wahlbeobachtung« in anderen Staaten könne der Hilfe der Bundeswehr bedürfen. Da kam beim Vorsitzenden des berufsständischen Bundeswehrverbandes Unbehagen auf; ob solche Operationen im Ausland denn verfassungskonform seien, fragt er. Und wundert sich, daß der Bundestag dieser Frage nicht nachgeht
A. K.
Unter dem Minimum existieren
In welch einem Land leben wir? Cora Stephan beschreibt es uns: Hier werden »Leistungsträger verachtet und Leistungsempfänger heilig gesprochen«, Zuzug »nicht in Arbeit, sondern in das Sozialsystem« wird attraktiv gemacht. Die Autorin legte uns das in der
Welt am Sonntag dar; einst war sie in der Redaktion des Frankfurter Sponti-Blattes
Pflasterstrand tätig, zu dessen Mitarbeitern auch Thomas Schmid gehörte, heute politischer Vordenker der
Welt-Gruppe im Springer-Verlag. Und sie beklagt die »Hatz« auf Sarazzin, bei der »zivilisatorische Grundwerte auf der Strecke geblieben« seien. Der so bös Gehetzte allerdings äußert sich munter, im Wirtschaftsmagazin
Capital verlangte er nach schmerzhaften materiellen Sanktionen bei »notorischer Integrationsverweigerung« – die Verweigerer müßten »unter das sozialökonomische Existenzminimum fallen«. Das ließe sich, damit es jeder versteht, pflasterstrandig ausdrücken: Aushungern, die Alis – und dann ab nach Anatolien!
Marja Winken
Accessoire
Als Philipp Rösler von Guido Westerwelle den Vorsitz der FDP übernahm, schrieben viele Zeitungen, es handle sich bei dem Neuen um einen Hoffnungsträger. Nachdem die FDP jetzt unter der neuen Führung aus der Bremer Bürgerschaft geflogen ist, scheint die Sache klar. Mit den Hoffnungsträgern (und den Leistungsträgern) ist es wie mit den Hosenträgern. Hosenträger sind Hosenträger, auch wenn keine Hose in der Nähe ist.
Günter Krone
Bodenlos
Lesen Gewerkschaftsvorstände in der wissenschaftlichen Zeitschrift, die in ihrer Regie erscheint? Man weiß das nicht. Sollten sie es aber tun, so müßte ihnen ein Beitrag im jüngsten Heft der
WSI-Mitteilungen einen Schrecken versetzt haben. Darin sind Daten des regierungsoffiziell tätigen Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ausgewertet, und es zeigt sich: Immer weniger abhängig Beschäftigte in der Bundesrepublik sind durch Branchen- oder Flächentarifvertrag und Betriebsräte geschützt. Nur etwa ein Drittel der ArbeitnehmerInnen in Westdeutschland und nur ein Fünftel in den neuen Bundesländern sind auf diese Weise abgesichert. Die Gewerkschaften verlieren den Boden, auf dem sie in sozialstaatlicher Tradition ihr wichtigstes Tätigkeitsfeld sehen. Mit Maireden ist gegen diesen Bedeutungsverlust nicht anzukommen.
Clara Tölle
Riesenerfolg
Überraschungen hat sie nicht gebracht, die Bürgerschaftswahl im Land Bremen. Die CDU hatte hier keine Chance, und daß die Grünen zulegen würden, stand auch schon vorher fest. Niemand konnte erwarten, daß ausgerechnet in diesem Städtestaat die FDP ihr Schicksal wenden werde. Merkwürdig nur, daß der Bundesvorsitzende der SPD das Bremer Wahlergebnis als »Riesenerfolg« seiner Partei bejubelte. Prozentual hat die SPD nur ein bißchen zugelegt, im Arbeitermilieu Stimmen eingebüßt. Daß sie nicht von den Grünen überrundet wurde, ist dem sozialdemokratischen Bürgermeister zu verdanken, einem rechtschaffenen Verwalter; angesichts der Extratouren, wie sie in der Politikprominenz derzeit üblich sind, wissen die Bremer, was sie an ihm haben.
Die Wahlbeteiligung war die niedrigste, die es je bei einer Bremer Landeswahl gegeben hat. Die beiden dort regierenden Parteien können zufrieden sein, daß der massive soziale Problemdruck in den beiden Weserstädten sich im Wahlergebnis nicht äußert. Die Bedrängten versprechen sich nichts mehr von der Stimmabgabe, Wahlteilnahme ist zu einer schichtspezifischen Gewohnheit geworden.
Kläglich war das Resultat für die Partei Die Linke. Gesine Lötzsch hat es schönzureden versucht – immerhin sei »die soziale Opposition« doch wieder zu Sitzen in der Bürgerschaft gekommen. Da wird sie aber nicht viel ausrichten können. Denn wenn sich die Opposition nur aufs Parlament beschränkt, haben SPD und Grüne sie nicht zu fürchten.
Marja Winken
Abgeordnete Befehlsempfänger
Als Parlamentkorrespondent war ich seit langem im Bilde: In der Fraktion »Eigenes Rußland« herrscht eine geradezu militärische Disziplin. Jeder Abgeordnete dieser Partei erhält, bevor zu einer Plenarsitzung der Staatsduma geht, eine Liste mit Anweisungen, welche Gesetzesvorlagen Zustimmung verdienen und welche abzulehnen sind. Ich habe einmal zufälligerweise (dank des Versehens einer Sekretärin) einen Blick ins Vertrauliche werfen können. Jetzt aber wird bekannt, daß die Anweisungen, diplomatisch »Empfehlungen« genannt, neuerdings direkt von der Regierung ins Abgeordnetenhaus kommen. Laut
Nesawissimaja gaseta stellt das Kabinett die Listen der erwünschten und der unerwünschten Gesetzesvorlagen zusammen und schickt sie an die Fraktionsmitglieder. Vollstreckungstermin: spätestens Dezember (denn dann findet die Parlamentswahl statt). Jeder Abgeordnete bekam einen persönlichen Brief, in dem ihm nachdrücklich be… nein, natürlich »empfohlen« wurde, welche Gesetze für das Allgemeinwohl nützlich und welche schädlich sind. Zur ersten Kategorie gehört erfreulicherweise die Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von 4330 auf 4611 Rubel. Für 281 zusätzliche Rubel wird der Empfänger seine Familie mit einem Kilo gefrorenem Fleisch beglücken können. Insgesamt soll die Fraktion mit ihrer Zwei-Drittel-Stimmenmehrheit mehr als 100 Gesetze verabschieden. Ungefähr ebenso viele Vorlagen sind zum Papierkorb verurteilt.
Für jedes Mitglied der Fraktion »Eigenes Rußland« gilt jetzt das eiserne Prinzip: Alles, was die Regierung nicht zur Annahme empfiehlt, soll abgelehnt werden. Ohne Wenn und Aber. Parlamentspräsident Boris Gryslow hat schon früher einmal öffentlich gesagt: »Die Staatsduma ist kein Platz für Diskussionen.«
Sergej Guk
Der kippelnde Eichmann
Der fünfzigste Jahrestag der Eröffnung des Prozesses gegen Adolf Eichmann vor dem Bezirksgericht in Jerusalem gab der Topographie des Terrors in Berlin Anlaß zu einer Sonderausstellung, die an den Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt und seine beispiellos verbrecherische Rolle erinnert. Schon bei ihrer Eröffnung wurde angekündigt, daß auch noch der kugelsichere Glaskasten installiert werde, in dem Eichmann 1961 während der Gerichtsverhandlung saß, so daß ihn kein Besucher in einem Akt der Rache attackieren und töten, also dem Urteil der Richter zuvorkommen konnte.
Die Veranstalter zeigten sich stolz, daß das Gerät zum ersten Mal aus Israel für einen derartigen Zweck entliehen wurde. Sie versprachen sich davon wohl die Wirkung einer besonderen Sehenswürdigkeit. Diese Erwartung mag eintreten. Bedient werden auf diese Weise freilich diejenigen Besucher, deren Verhalten sich – unakademisch – mit Glotzen statt Denken beschreiben läßt, die also eher etwas Unalltägliches gesehen haben wollen, als sich Strebens nach Gewinn von Kenntnissen und Erkenntnissen zu rühmen. Der Kasten lenkt das Denken, wenn überhaupt gedacht wird, auf Zweit- und Drittrangiges. Bezeichnend sind die Fragen, die einem Journalisten kamen, der die Präsentation wortreich begrüßte: »Wer baute die Zelle? Hatten die Handwerker Eltern, Verwandte, Bekannte, die unter den Opfern Eichmanns waren? ... wie viele Blicke durchbohrten die Glaswände? Was dachten die Bewacher hinter Eichmann? Wer vollzog jeden Morgen die Mikrophonprobe? Wurde täglich ausgefegt? Was vollführten Eichmanns Finger auf der Holzplatte? Kippelte er mit dem Stuhl?«
Es gibt zwei Fragen, denen Nachgeborene, sie dürften bei weitem den größten Anteil der Besucher stellen, beim Verlassen der Ausstellung nachgehen sollten: Welche gesellschaftlichen und staatlichen Zustände ergaben einen Platz, der einen Menschen dieses Typs verlangte und der von einem Eichmann besetzt werden konnte? Und: Welche Zustände machten es möglich, daß ein Massenmörder nach dem Ende seiner Untaten 15 Jahre lang unbehelligt weiterleben konnte und nicht einmal verbergen mußte, wes Geistes Kind er war und geblieben war? Und dann ist da die Frage, die Hannah Arendt, die Prozeßbeobachterin, sich und den Lesern ihres berühmten Berichts »Eichmann in Jerusalem« stellte: Ist eine Wiederholung eines Verbrechens von diesem Charakter und Ausmaß möglich? Sie hat sie bejaht.
Kurt Pätzold
Die Ausstellung »Der Prozeß – Adolf Eichmann vor Gericht« wird im Gebäude Topographie des Terrors bis zum 18. September 2011 gezeigt.
Die Indianer kommen
Wenn die Indianer kommen, nimmt der Sheriff den Banditen, die er eben verhaftet hat, die Handschellen ab und händigt ihnen Gewehre aus. Der Vertreter des Gesetzes und die Killer machen gemeinsame Sache gegen die Untermenschen, denen man jene Gewalt andichtet, die man selbst ausübt. Das ist das Muster unzähliger Western.
Osama bin Laden hat wahrscheinlich den Tod mehrerer Tausend Menschen zu verantworten. Er wurde dafür getötet. John Demjanjuk hat wahrscheinlich den Tod mehrerer Tausend Menschen zu verantworten. Er wurde dafür, anders als Bin Laden, in einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt und auf freien Fuß gesetzt.
Wenn jemand käme – sagen wir ein US-amerikanischer Staatsbürger, der seine Familie in Sobibor verloren hat – und Demjanjuk ermordete: Könnte er mit der gleichen Reaktion rechnen wir die Mörder Bin Ladens, würde er gar als Held gefeiert?
Soviel zur Frage der Gleichbehandlung vor dem Gesetz, zur Frage der Gerechtigkeit und zur Frage, wessen Ermordung die Todesstrafe rechtfertigt und wessen Ermordung hingenommen werden kann
Thomas Rothschild
Wie geht ihr mit Behinderten um?
Die an der Brown-Universität in Providence (USA) im Fachbereich German Studies lehrende Carol Poore gab im Jahr 2000 unter dem nicht gerade wissenschaftlich klingenden Titel »Aber Roosevelt konnte laufen« einen Überblick, was es in Deutschland und in den USA bedeutet, behindert zu sein. Inzwischen hat sie sich noch intensiver mit dem Thema »Behinderung in der deutschen Kultur im 20. Jahrhundert« beschäftigt. Schon nach der Lektüre der ersten Kapitel wünscht man sich, daß diese sorgfältige Studie über den letztlich mörderischen Umgang mit behinderten Mitmenschen zwecks Alleinherrschaft der »deutschen Herrenrasse« auch auf Deutsch zu lesen wäre. Zwar gibt es in Deutschland zu dem Thema einige wertvolle Arbeiten wie die des Publizisten Ernst Klee, aber die Wissenschaft hat bisher lieber einen Bogen darum gemacht. Man vergleiche dieses Desinteresse mit den Bibliotheken voller Literatur über die Leiden der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten ...
Menschen mit Mißbildungen und Behinderungen wurden in Deutschland nicht erst im Dritten Reich ausgegrenzt. Eben weil die »deutsche Herrenrasse« eine schon lange gehegte Wunschvorstellung war, protestierten nur wenige, als Wörter wie »minderwertiges Erbgut« in deutschen Schulbüchern auftauchten. Nazi-Informationsblätter propagierten dann ganz offen: »Sterilisation: Nicht Strafe – sondern Befreiung – denn welche Eltern wollen ihrem Kind Behinderung als Schicksal zumuten?«
In der Weimarer Republik hatten mutige Maler erstmalig Kriegsinvaliden auf die Leinwand gebracht und den für »Gott, Kaiser und Vaterland« geführten Weltkrieg als sinnloses Morden dargestellt. Solche Bilder von Dix und Barlach wurden unter Hitler nicht nur als »entartete Kunst« verboten und vernichtet, sondern der als Kunstwissenschaftler gerühmte Paul Schultze-Naumburg organisierte zwecks doppelter Verhöhnung eine Ausstellung, in der Bilder »entarteter Kunst« mit Fotos von behinderten Menschen kombiniert wurden, um die Betrachter auf »so was muß doch vernichtet werden« einzustimmen.
Das Buch endet nicht mit dem Sieg der Alliierten über den deutschen Faschismus, sondern fragt auch nach dem Platz, der den überlebenden Behinderten, den invaliden Soldaten und Zivilisten eingeräumt wurde. Und das wird an beiden deutschen Staaten dargestellt. In ihrem früheren Buch »German Journeys to the Working World, 1890–1990« und »German-American Socialist Literature, 1865–1900« hat die Autorin sozialistische Theorie und -praxis bereits als ernsthafte Versuche gewürdigt, menschenwürdiges Leben in Gleichberechtigung anzustreben. Ausführlich hat sie dort dargestellt, wie in der DDR unter den Bedingungen permanenter Parteikonflikte und wirtschaftlicher Schwierigkeiten Behinderten das Recht auf Bildung und Arbeit gewährt wurde. Das liest sich aus US-amerikanischer Feder einigermaßen überraschend. Für Carol Poore liegt die DDR nicht auf der Achse des Bösen, wenngleich sie auch Kritik übt, zum Beispiel an der Begrenzung von Eigeninitiativen der Behinderten. Bei den Protesten vor der Wende, so berichtet sie, hätten auch Behinderte ihre Forderungen lautstark öffentlich gemacht, aber keinesfalls damit gerechnet, daß im dann vereinten Deutschland ihr Grundrecht auf geschützte Ausbildungs- und Arbeitsplätze erlöschen würde.
Die Autorin erwähnt mehrmals anerkennend das Engagement von Ilja Seiffert, der wie sie selber auf den Rollstuhl angewiesen ist. Nach der Wende wurde er zum Vorsitzenden des Behindertenverbandes gewählt und kam schließlich auf der Liste der PDS in den Bundestag, wo er bis heute Behindertenbeauftragter seiner Fraktion ist.
Weil dieses Buch eine Gesellschaft schonungslos daran mißt, welche Chancen sie Behinderten einräumt, könnte man sagen: »Finde heraus wie deine Gesellschaft mit Behinderten umgeht, und du findest heraus, was sie von Demokratie und Menschenrechten hält.«
Ilsegret Fink
Carol Poore: »Disability in Twentieth Century – German Culture«, The University of Michigan Press, 407 Seiten
Horst Bethge
Zum »Kampf dem Atomtod« rief 1957/58 die SPD. Der Hamburger Pädagogikstudent Horst Bethge wollte mitkämpfen. Aber dann änderte die SPD ihre Haltung und trennte sich von dem konsequenten Gegner der atomaren Aufrüstung. Anders als Horst Bethge war ich der SPD nicht beigetreten und konnte daher nicht ausgeschlossen werden. Doch als ich mal wieder im SPD-Haus Flugblätter vervielfältigen wollte, rief mich der Landesvorsitzende Karl Vittinghoff zu sich und stellte klar: »Aber eins muß klar sein: Wir machen das alles nur, um den Kommunisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.« Diesem »Wir« habe ich nie zugehören wollen. Mit Horst Bethge dagegen habe ich seitdem mehr als 50 Jahre lang eng zusammengearbeitet: in der Anti-Atom-Bewegung, in der Friedensbewegung, in der Kampagne »Weg mit den Berufsverboten«, die von Hamburg ausging, weil die dortige sozialdemokratische Landesregierung als erste den Beschluß gefaßt hatte, »Radikale« vom öffentlichen Dienst fernzuhalten. Wir fanden großartige Mitstreiter nicht nur im Inland, sondern auch in vielen europäischen Ländern, aber es dauerte Jahre und kostete viele Opfer, bis Willy Brandt einräumte, der Radikalenerlaß sei »ein Irrtum« gewesen. Hauptorganisator dieser Kampagne war Horst Bethge – schon deswegen, weil er immer mit drei Stunden Nachtschlaf auskam. Von seiner Vitalität, seiner Schaffensfreude haben viele oppositionelle Bewegungen in der Bundesrepublik gezehrt. Als wir 1999 in der Gewerkschaftergruppe »Dialog von unten statt Bomben von oben« nachts in einem unbeleuchteten Bus durch das verdunkelte Jugoslawien fuhren, erzählten wir uns von den Bombennächten, die wir als Kinder erlebt hatten.
Gab es je etwas, worüber wir verschiedener Meinung waren?
Die Trauerfeier für Horst Bethge findet am 28. Mai in Hamburg-Ohlsdorf statt.
Eckart Spoo
Poetische Ratgeberin
Wahrscheinlich soll der Titel stören. Kokettiert hier Gisela Steineckert mit dem Ruf der cleveren, sich vordrängenden, auffällig schönen Frau? Oder bereut sie ihr oft temperamentvolles Engagement für den verflossenen Staat und seine Institutionen? Ihr sei dank – keines von beiden geschieht! Sie bleibt die poetische Ratgeberin für alle Lebenslagen und erzählt diesmal etwas mehr aus dem »Nähkästchen«: über ihre schnelle Karriere bei Presse, Verlagen, Film und Männern. Enttäuschungen, Erfolge, Erfahrungen, Erlebnisse. Die Kinder, die Enkelin, die Schützlinge, die Kollegen. Und versagt es sich auch heute nicht, ihre kritische Meinung zum großen Deutschland in der Welt zu sagen. Sie war wer: Präsidentin eines Vereins, den zusammenzuhalten und zu vertreten so schwierig war wie Flöhe zu hüten. Die »Flöhe« waren Unterhaltungskünstler der DDR: Pop-, Rock- und Schlagersänger. Bands, Liedermacher, Kabarettisten und Zirkusleute. Sie gehörte dazu, denn ihre Texte (2800 Lieder!) wurden und werden von vielen gesungen: Jürgen Walter, Vroni Fischer, Holger Biege, Gisela May, Frank Schöbel, Barbara Thalheim und anderen. Nicht alle honorierten später ihr Engagement. So bleiben Narben, aber sie kann es nicht lassen, das »Sich-Kümmern« und »Beraten«. So ist auch dieses Buch eher eine Art Ratgeber, gespeist aus reicher Erfahrung, gesundem Menschenverstand und viel Herz. Ihre Fans mögen das, zumal sich die »Immer-Ich-Sicht« in Grenzen hält. Da handeln plötzlich ganze Kapitel von einer, die auf den Rat der Freundin nicht hörte und in Liebe versank, oder von anderen, die wiederum ihr rieten. Um ihren Mann ist sie zu beneiden, und die achtzig Jahre glaube ich ihr nicht, so lebendig, streitbar und präsent, wie sie (und ihr Buch) ist.
Christel Berger
Gisela Steineckert: »Immer ich«, Verlag Neues Leben, 301 Seiten, 16,95 €
Ein Tagebuchblatt für Harald K.
Führt man Tagebuch, vergißt man nicht alles. Vor zweieinhalb Jahren notierte ich dies:
»Vom großen Karikaturisten aus Kleinmachnow, Harald Kretzschmar, habe ich das ›Paradies der Begegnungen‹ nun durchgelesen. Begegne auf merkwürdige Weise Leuten wieder. Wilhelm Gonnermann, der DEFA-Pianist, ab Mitte der fünfziger in Kleinmachnow ansässig, wohnte zuvor in Rudolstadt. Genau in jener Villa ›Erika‹, deren Erdgeschoß wir von 1982 bis 1996 bewohnten. Wo eine große Falttür zum Salon sich öffnete, war bei uns eine Pappverschalung zwischen Kinder- und Wohn-Schlafzimmer. Der Flügel muß ungefähr vor unserem roten Sofa gestanden haben. Unsere Küche war offensichtlich Gonnermanns Buffett für größere Feste.
Schauspieldirektor und Generalintendant Johannes Arpe hauste in Kleinmachnow das Jahr vor seinem Tode 1962. Seinen Enkel gleichen Namens treffe ich, wenn ich nebenan ein Guinness schlucke. Ansonsten obliegen ihm am Theater Rudolstadt Königs- und Liebhaberrollen. Tochter beziehungsweise Mutter von Johannes Arpe, Antje A., war kurzzeitig am Geraer ›Fettnäppchen‹ engagiert – nachdem ich dort schon meinen Abschied bekommen hatte.«
Kramte ich jetzt in meinem Bild-Gedächtnis, fielen mir allerlei Karikaturen von H. K. ein, zu denen er Geschichten erzählen könnte – und ich müßte sie für mich in Tagebuchnotizen festhalten. Denn als Anreger, als Kenner & Kritiker von Kunst und Geschichte, als gelegentlicher Polemiker in der Presse ist Harald kaum zu ersetzen. Sein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest von des Merkens würdigen Dingen. Herzlichen Glückwunsch zum Achtzigsten, lieber Harald.
Matthias Biskupek
Walter Kaufmanns Lektüre
Uns vielen, die wir in der Vergangenheit nach Marokko, Tunesien oder Ägypten gereist waren, wird die Kluft zwischen Wohlstand und Armut deutlich gewesen sein. Aber ob wir so deutlich auch die schwelende Unruhe in der Bevölkerung erkannt haben?
Tahar Ben Jellouns »Arabischer Frühling« ist eine nützliche Entdeckung, auch deswegen, weil der Autor uns die Gedankenwelt eines Mubarak oder eines Ben Ali vorführt. Mubarak: »Man erzählt furchtbare Dinge über mich, der dieses Land aus dem Elend gerettet, dem undankbaren Volk Freiheit, Wohlstand und Demokratie beschert hat.« Ben Ali: »Die Leute denken, als Staatsoberhaupt sei man aus Eisen, aus rostfreiem Stahl. Ich habe ein Herz, habe Gefühle, liebe Gärten und Rosensträuße, ich liebe das Leben und die Sonnenuntergänge über La Marsa.« Tahar Ben Jelloun hält auch mit einer Erklärung für das Schweigen und die Tatenlosigkeit europäischer Staatschefs nicht zurück, »die glaubten, wenn sie auf die Menschenrechte pochten, könnte ihnen das die Geschäfte mit den arabischen Machthabern verderben ...«
Jelloun beschreibt – auch in seiner Novelle »Der Funke« –, wie in der kleinen tunesischen Stadt Bouzid ein mittelloser Akademiker namens Mohamed Bouazizi nach dem Tod seines Vaters für eine siebenköpfige Familie aufzukommen hatte, sich in seiner Not einen Obstkarren zulegte und als Verkäufer durch die Stadt zog – bis die Polizei ihn um Geld anging und, als er nicht zahlen konnte, mißhandelte, auch seinen Karren beschlagnahmte. Zudem verhöhnte ihn eine Polizistin und spuckte ihm ins Gesicht. Die Schmach verkraftete er nicht, er begoß sich mit Benzin und zündet sich an.
Was die Einwohner von Bouzid in Aufruhr versetzte und landesweite Unruhen auslöste, die in die Geschichte als die »Jasminrevolution« eingingen. Werner Ruf hat sie in
Ossietzky 3/11 geschildert.
Mubaraks Vermögen, so erfährt man, wird auf 70 Milliarden US-Dollar geschätzt. Da bedarf es keiner Erklärung, wie der Begriff »Kifaya, Schluß jetzt!« zum Kampfwort wurde. Schluß mit der Ausbeutung, der Korruption und der Folter ...
Das Buch des 1944 in Marokko geborenen, in Paris und Tanger lebenden Autors bringt viel Wissenswertes über die Zustände in Algerien und im Jemen. Hart und lang wird der Kampf in Algerien werden, wie Jelloun voraussagt. Im Jemen dagegen (wo »jeder, selbst die Jugendlichen, entweder mit einem Gewehr oder mit einem Dolch im Gürtel bewaffnet ist ...«) hat Präsident Salih zur Beschwichtigung der Bevölkerung seine Bereitschaft erklärt, vor den nächsten Wahlen zurückzutreten.
Nach dem arabischen Frühling wird nichts mehr sein wie zuvor – weder in der arabischen noch in der westlichen Welt, weiß Tahar Ben Jelloun und kommt damit zur aktuellen Quintessenz seines Buches.
W. K.
Tahar Ben Jelloun: »Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen arabischer Würde«, Berlin Verlag, 124 Seiten, 10 €