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Titel1112

Das Ende einer Alternative  (Heinrich Fink)

Jeder Rückblick auf Wendeereignisse macht uns ehemaligen DDR-Bürgern aufs Neue deutlich, wie unzulänglich informiert und ungeübt wir Argumentationskünste und Jonglierfähigkeiten als legitime Lebensäußerungen im Rechtsstaat erst verstehen lernen mußten. Für mich war dieser Lernprozeß besonders hart. Hatte ich doch gehofft, daß die Humboldt-Universität zu Berlin (HUB) ein ernstgenommener Partner sei. Aber die zielstrebig von Anfang an verfolgten Interessen des Senators für Wissenschaft und Forschung gegenüber der Humboldt-Universität waren mit unserer Hoffnung auf eine Demokratisierung »aus eigenen Kräften« leider unvereinbar. Daß unser Optimismus nicht ohne Selbsttäuschung war, erwies sich, als 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Humboldt-Universität wegen mangelnden Bedarfs, wegen »Staatsnähe« oder angeblich belastender Stasiakten ihre Arbeitsplätze verloren.

Die Aufbruchstimmung der Wende war zögerlicher geworden, alle Medien wetteiferten in zunehmend pauschaler Verurteilung der DDR. Ernsthafte Bemühungen um demokratische Veränderungen fanden oft wenig Anerkennung bei den westlichen Regisseuren. Aus berechtigter Sorge um den eigenen Arbeitsplatz in der Universität hielten sich anfangs engagiert Beteiligte mehr und mehr zurück.

Am 1. April 1992 hatte das Arbeitsgericht meiner Klage gegen die Entlassung stattgegeben und im Urteil meine sofortige Weiterführung des Rektoramtes bis zu der bereits festgelegten Wahl eines neuen Rektors verfügt.

Schon bevor mir fristlos gekündigt worden war, hatten wahlberechtigte Studenten meinen Namen wieder auf die neue Kandidatenliste gesetzt. Vorher aber mußte, weil seine Legislaturperiode abgelaufen war, das Konzil, das höchste Entscheidungsgremium der Humboldt-Universität, neu gewählt werden. Es bestand damals aus 200 Mitgliedern, die auch den Rektor zu wählen hatten.

Am 7. April 1992 forderte der Akademische Senat nach achtstündiger Sitzung aufgrund seiner »Abstimmung in Sachen Fink« den amtierenden Rektor Adolf Zschunke auf, dem nunmehr gerichtlich freigesprochenen gewählten Rektor seinen Platz wieder zu übergeben. Das sei nicht nur das eindeutige Ergebnis der in dieser Sitzung erfolgten Abstimmung, sondern auch die durchweg geäußerte Meinung in der Universität. Zschunke dagegen verblüffte alle anwesenden Senatsmitglieder mit der Nachricht, der Berliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt habe ihm mitgeteilt, daß er seine gegen mich verhängte Rechtsaufsichtsmaßnahme nicht zurückgenommen habe. Sie bleibe für mich persönlich und entsprechend auch für die Gremien der Humboldt-Universität verbindlich. Die Kündigung bleibe also rechtskräftig, denn er habe gegen das ergangene Urteil sofort Widerspruch eingelegt. Ich hätte daher auch weiterhin weder als Hochschullehrer noch als Rektor einen Rechtsstatus in der Humboldt-Universität und könne aus diesem Grunde auch nicht wieder kandidieren.

Zschunke betonte, diese Mitteilung an den Akademischen Senat sei ihm in einem »weisenden Gespräch« vom Senator aufgetragen und in drei unmittelbar folgenden Schreiben bestätigt worden. Für die Forderung, daß er seinen Platz zugunsten von Fink wieder räumen solle, gebe es also keinen rechtlichen Anlaß. Vielmehr habe er vom Senator den Auftrag erhalten, daß Fink seinen Personalbogen als Professor auszufüllen und sich umgehend der Evaluierung durch die Struktur- und Berufungskommission der Theologischen Fakultät zu stellen habe. Bei einem negativen Ergebnis der Evaluierung wäre dann auch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil hinfällig und Finks Weiterbeschäftigung sowieso ausgeschlossen.

Die Frage studentischer Senatoren, warum Professor Zschunke denn seinen Platz nicht aufgrund der erfolgten Rechtsprechung spontan an den nun wieder »rechtmäßigen« Rektor abgetreten habe, zeigt, wie ungeübt Ostdeutsche noch in westdeutschem Rechtsdenken waren. Verblüfft reagierten sie dann auf Zschunkes Information, er habe zwischenzeitlich ein Rechtsgutachten durch den Berliner Hochschulverband eingeholt, in dem es heiße, daß er die Grenzen seines Amtes überschritte, wenn er als Stellvertreter persönlich das Rektorenamt an Fink zurückgäbe. Er betonte vor dem Akademischen Senat, daß er das vom Senator ihm übertragene Rektorat »juristisch ordentlich« zu Ende führen werde, bis ein neuer Rektor gewählt sei. Der Wissenschaftssenator, der Jurist sei, und er selber seien überzeugt, daß die richterliche Entscheidung der ersten Instanz im Berufungsverfahren hinfällig werde.

In der Zwischenzeit hatte der Akademische Senat den bereits feststehenden Termin für die Rektorwahl verschoben. Aufgrund der »Rechtsaufsichtsmaßnahme« des Senators konnte ich, obwohl offiziell rehabilitiert, doch nicht wieder auf die Kandidatenliste gesetzt werden. Alsbald sprach sich herum, daß unter den Ordinarien der Humboldt-Universität niemand bereit wäre, für das Amt des neuen Rektors zu kandidieren. Deshalb warf Zschunke im Konzil umgehend die Frage auf, ob denn angesichts der unbefriedigenden Kandidatenliste eine Präsidialverfassung nicht viel günstiger wäre. Denn dann könnten sich auch jede Professorin und jeder Professor anderer Universitäten für das Präsidentenamt bewerben. Endlich war damit das vom Senator von Anfang an angestrebte Ziel der Neuordnung der HUB offiziell auf der Tagesordnung des Konzils.

Derweil hatte der Akademische Senat beschlossen, die Zahl von 200 Konzilsmitgliedern bei der bevorstehenden Neuwahl der Gremien auf 54 zu reduzieren. Die Fachbereiche wählten dann für das neue Konzil nur noch 54 Mitglieder. Vor diesen Neugewählten verteidigte Zschunke in seinem Rechenschaftsbericht als amtierender Rektor die Entscheidung des Senators, die »Rechtsaufsichtsmaßnahme gegen Fink« nicht aufzuheben, und bekräftigte erneut, daß er persönlich diese Rechtsauffassung teile. In der dann folgenden lebhaften Debatte um Rektor oder Präsident wurde die Abstimmung auf den 14. April 1992 vertagt. In der entscheidenden Sitzung wurden viele Bedenken geäußert, etwa, daß in einem »Schnellverfahren« jetzt nicht nur die hundertachtzigjährige Tradition der Berliner Universität annulliert, sondern auch das erst nach der Wende hart erarbeitete neue demokratische Statut aufgegeben würde. Eine Präsidialverfassung sei im Vergleich zum neu erarbeiteten Statut ein »struktureller Akt des Vergessens«. Nach der ordnungsgemäßen geheimen Wahl wurde aber die Rektoratsgeschichte der Humboldt-Universität mit knapper Mehrheit zugunsten der Präsidialverfassung beendet. Mit der Entscheidung des Konzils »Präsident statt Rektor« wurde zugleich das unter reger Anteilnahme aller Angehörigen der Humboldt-Universität diskutierte und von den Gremien sorgfältig erstellte neue Hochschulstatut stillschweigend wieder abgeschafft. Dieses Statut war aber das in heftigen Auseinandersetzungen erarbeitete Kernstück der Bemühungen um die Demokratisierung der Hochschule mit eigenen Kräften. Tatsächlich war dieses Statut sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt und übersetzt worden. Es galt als Musterbeispiel für gleichberechtigte Beteiligung von Studenten in allen entscheidungsfindenden Gremien der Uni. Wir wollten nicht nur neu interpretieren, sondern konkret verändern.

Nach zwei Jahren leidenschaftlicher interner und öffentlicher Diskussionen, Protestmärschen gegen Abwicklung und der unermüdlichen Einmischung der Studentenzeitung Unaufgefordert mußte nach dieser zweifellos demokratisch korrekten Abstimmung im Konzil unsere kurzlebige demokratische Alternative von der Wendebühne abtreten.

Die Serie mit Erinnerungen des Theologen Heinrich Fink an die Berliner Humboldt-Universität in der Wendezeit wird fortgesetzt.