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Titel1112

Spiel mit dem Feuer  (Wolfgang Schreyer)

Ferneinsätze des Militärs – damit kennt sich mein Heimatland aus. Das hat Tradition seit dem Boxer-Aufstand in China an der vorletzten Jahrhundertwende und dem verzweifelten Freiheitskampf der Hereros 1904/07 in Deutsch-Südwestafrika. Da führte der Kaiser uns noch »herrlichen Zeiten« entgegen, zum »Platz an der Sonne«, lag für ihn doch »Deutschlands Zukunft auf dem Wasser«.

Nicht immer floß Blut wie dort im Fernen Osten oder Süden. Etwa am 1. Juli 1911, als das Kanonenboot »Panther«, gefolgt vom kleinen Kreuzer »Berlin«, vor dem marokkanischen Hafen Agadir erschien: scharfe Antwort der Reichsregierung auf einen Coup Frankreichs, das im Sog wichtiger Finanzinteressen gerade Marokkos damalige Hauptstadt Fès besetzt hatte. »Die Flagge folgt dem Dollar«, hieß so etwas in den USA.

Der legendäre »Panthersprung« war hochriskant. Mit ihm begann die zweite Marokko-Krise – nach der ersten sechs Jahre zuvor. Da hatte Wilhelm II. höchstselbst im Hafen von Tanger erklärt, Deutschland werde die Herrschaft einer anderen Großmacht über Marokko keinesfalls dulden! Anders als bei Feldzügen gegen ungedrillte und schlecht bewaffnete Kolonialvölker standen hier Industrienationen einander hochgerüstet gegenüber. So begann, zumal Großbritannien nun an Frankreichs Seite trat, jenes tödliche Spiel, das in die Jahrhundert-Katastrophe des ersten Weltkriegs mündete.

Nach dessen Ende blieb das geschlagene Deutschland, arg geschwächt und von Krisen geplagt, kaum 20 Jahre lang scheinbar friedlich. Am 1. September 1939 fiel beim räuberischen Angriff auf Polen der erste Schuß um 4.45 Uhr. Es folgten im April 1940 der Einmarsch in Dänemark und Norwegen und im Mai der Blitzschlag gegen Frankreich, Belgien und Holland Punkt 5.35 Uhr. In Rußland drang die Wehrmacht am Sonntag, dem 22. Juni 1941, um 3.15 Uhr ein – präventiv, wie Propagandaminister Goebbels wissen ließ, das heißt um einem angeblich drohenden Angriff der Roten Armee zuvorzukommen. Wer Mitte des 20. Jahrhunderts auf möglichst wirkungsvolle Luftschläge setzte, der griff überraschend frühmorgens an.

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Israel begann den Sechstagekrieg gegen die Nachbarn am 5. Juni 1967 erst um 7.45 Uhr, ganze drei Stunden nach Sonnenaufgang. Dafür gab es operative Gründe. Nach heftigen Drohgebärden lagen sich Israelis und Araber im ersten Morgenlicht stets kampfbereit gegenüber. In den Jagdflugzeugen saßen die Piloten, die Motoren der Panzer liefen. Dann aber wich der Druck; im täglichen Pendeln zwischen Alarm und Entspannung lag die Chance, abzuwarten, bis die Wachsamkeit des Gegners erschlaffte. Auch löste sich der Morgennebel über dem Nil und dem Suezkanal bis dahin immer auf.

An den Vortagen hatten Israels Spähflüge am Golf von Akaba den Anschein erweckt, der Angriff sei von Süden her zu erwarten. Tatsächlich kam er von Norden übers Mittelmeer. In neun Metern Höhe unterflogen die Jagdbomber das Radar des Gegners und tauchten jäh hinter ihm auf. So zerbarsten schon am ersten Kriegstag 374 Flugzeuge – technisch gar nicht schlechter als die des Angreifers – auf ihren eigenen Plätzen, »am Boden zerstört«, wie es im Zweiten Weltkrieg stets so kernig geheißen hatte.

»Die ersten 80 Minuten sind in 16-jähriger Planung vorbereitet worden«, sagte Luftwaffenchef General Hod laut Spiegel 31/1967. »Wir lebten mit dem Plan, wir schliefen auf dem Plan, wir fraßen den Plan; wir perfektionierten ihn ständig ... Mit Syrien und Jordanien wurden wir binnen 15 Minuten fertig.«

Solch stupende Effizienz war hart erworben, Folge weit überlegener Ausbildung. Ihr fiel am 8. Juni, dem vierten Kriegstag, auch das US-amerikanische Aufklärungsschiff »Liberty« zum Opfer. Vor der Sinai-Küste starben 34 US-Seeleute, 171 wurden verletzt. Um Washington einen Grund zu liefern, an ihrer Seite einzugreifen, behaupteten die Israelis, Ägypten habe die »Liberty« attackiert. Als sich das nicht aufrecht erhalten ließ, bedauerte Tel Aviv, das Schiff mit einem ägyptischen Frachter verwechselt zu haben. Doch weshalb hatte Israel dann von seinen Flugzeugen und Schnellbooten die Hoheitszeichen entfernt? Washington, sonst da sehr sensibel, nahm den Tod seiner Bürger still hin, um des gemeinsamen Kriegsziels willen: Schwächung der arabischen Nachbarn. Deren Versuch, es sechs Jahre später im Jom-Kippur-Krieg dem Feind heimzuzahlen, scheiterte an Israels militärischer Präsenz.

Seit langem wird nun Israels Schlagkraft enorm gesteigert durch mehr als 200 Kernwaffen, außerhalb jeglicher Kontrolle diskret hergestellt in einem Sperrgebiet der Negev-Wüste bei Dimona – ein Fakt, den deutsche Medien kaum erwähnen. Das ist »die Heuchelei des Westens«, die Günter Grass so satt hat, daß er darüber schrieb. Und ihn empört »das behauptete Recht auf Erstschlag« gegen Israels Erzfeind Iran. Er hat einfach Angst vor der Kettenreaktion, ausgelöst durch einen konventionellen Erstschlag der Atommacht Israel auf Nuklearanlagen des Iran – jenes ölreichen, unbotmäßigen, oft verteufelten und übrigens von US-Stützpunkten umringten Landes, das selbst weder Kernwaffen besitzt noch, wie es versichert, derzeit solche baut.
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Mahmud Ahmadinedschad, 55, ist ein Musterschüler gewesen. Als Patriot war er Kommandeur einer technischen Einheit der Revolutionsgarden, die ab 1980 den jähen Einmarsch der Iraker stoppte, mit hohem Blutverlust. Ihm kann nicht entgangen sein, wie Washington die Invasion Saddam Husseins begünstigt hat. Und er weiß, wer den Militärputsch von 1953 arrangierte, der Mohamad Mossadegh stürzte – eben den Ministerpräsidenten, der die Erdölindustrie des Landes verstaatlicht, also britisch-amerikanischen Kapitalinteressen arg geschadet hatte.

Damit wurde das prowestliche Schah-Regime installiert, gestützt auf den grausamen Geheimdienst Savak. Im Weltbild des promovierten Bauingenieurs Ahmadinedschad sind die USA folglich als Erbfeind seines Volkes der »große Satan«, dem in Nahost Israel als Speerspitze und »kleiner Satan« dient. Will er den von der Landkarte tilgen, wie es ihm ein Übersetzungsfehler unterstellt? Zwar verdammt er Tel Avivs Umgang mit den Altbewohnern des vormals britischen Palästina und die Siedlungspolitik nebst Mauerbau im Westjordanland. Doch vom Iran ging in dessen ganzer Geschichte noch nie ein Krieg aus – während Israel schon am 30. Oktober 1956 seine Grenze überschritt, als es, die britisch-französische Militäraktion am just verstaatlichten Suezkanal flankierend, Ägyptens Halbinsel Sinai besetzte.

Erstschlags-Absichten sind immer erschreckend. Als Nikita Chruschtschow einmal einen Angriff auf Startplätze in Pakistan androhte, von denen der Höhenspion U-2 abhob, den Rußlands Luftabwehr noch nicht erreichte, da überlief es mich kalt. Zum Glück löste dann der Abschuß des US-Piloten Gary Powers am 1. Mai 1960 über Swerdlowsk Moskaus Problem.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion endete freilich auch das gewalthemmende Patt der Bipolarität; ein laxer Umgang mit dem Völkerrecht riß ein. Auslandseinsätze jenseits der Landesverteidigung wurden wieder so üblich wie vor 100 Jahren. Die Welt gewöhnte sich an NATO-Bomben auf jugoslawische Brücken oder Chinas Botschaft in Belgrad, an Hamas-Raketen auf den Süden Israels wie auch an dessen Luftschlag von 2007 auf rätselhafte Bauten in Syrien. Und an US-Marschflugkörper, dutzendfach grenzüberschreitend verfeuert, sowie die todbringend ferngelenkten »Predator«-Drohnen.

Gut, daß Günter Grass sein biografisch bedingtes Schweigen gebrochen und den Nobelpreis-Bonus genutzt hat, um die Öffentlichkeit zu alarmieren.