Von den sowjetischen Arbeitslagern, die der »Hauptverwaltung Lager« (Glawnoje upravlenije lagerej, kurz Gulag) unterstanden, weiß die Welt hauptsächlich aus Büchern von Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow. Erstmals – so die Veranstalter – kann man sich jetzt auch in einer Ausstellung über den Gulag informieren. Nicht in Moskau, nicht in St. Petersburg, sondern in Neuhardenberg.
Der Ort liegt mehr als eine Autostunde östlich von Berlin, nahe der polnischen Grenze, wenige Kilometer von Seelow entfernt, wo 1945 die Rote Armee, verstärkt durch polnische Truppen, die Oder überqueren und damit das letzte große Hindernis auf dem Siegeszug nach Berlin überwinden mußte. Oben auf den Seelower Höhen stand die deutsche Artillerie mit immer noch sehr viel Munition, die sie ins Tal hinabschoß. Die Schlacht forderte 60.000 Menschenleben.
Neuhardenberg hieß in DDR-Zeiten Marxwalde. Im Nachbarort Hermersdorf heißt der Fahrweg nach Neuhardenberg noch heute Marxwalder Weg. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente Schloß Neuhardenberg – viel stattlicher und ausgedehnter als Burg und Hofgut Hardenberg in Niedersachsen – allen erdenklichen sozialen Zwecken, aber seit einigen Jahren ist es aufs feinste herausgeputzt: strahlend weiß im umgebenden Grün der Rasenflächen und Parkbäume. Den Park beherrscht ein Denkmal für den Preußenkönig Friedrich II., der jetzt wieder wie bis 1945 »der Große« genannt wird (seine massenmörderischen Angriffskriege bleiben meist unerwähnt).
Die Stiftung Neuhardenberg, die häufig namhafte Musiker zu Konzerten, Schriftsteller zu Vorträgen, Schauspieler zu Rezitationsabenden einlädt und manchmal auch politische Schöngeister oder schöngeistige Politiker zu Gesprächen, »fördert seit ihrer Gründung, im Jahre 2001 in unterschiedlichen Formaten die Entwicklung in den postdiktatorischen Ländern Mittel- und Osteuropas«. Was diese Selbstauskunft konkret bedeutet, werden wir hoffentlich einmal etwas konkreter erfahren; jedenfalls kollidiert es gewiß nicht mit den Interessen der Sparkassen-Finanzgruppe, der Stifterin dieser Stiftung.
Im Kavaliershaus Ost (auf der überaus breiten Schloßallee am Schloßhotel vorbei bis zur Schloßkirche, dort rechts abbiegen) findet bis 24. Juni die Ausstellung »Gulag – Spuren und Zeugnisse 1929-1956« statt; nachher wird sie vom 20. August bis 21. Oktober im Schiller-Museum Weimar zu sehen sein. Hilfreich beteiligt sind die von Andrej Sacharow gegründete, mit deutschen Sympathien gesegnete Gesellschaft »Memorial«, die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, die Kulturstiftung des Bundes sowie das Land Thüringen, das die Druckkosten für den im Wallstein Verlag erschienenen Katalog (153 Seiten, 14,90 Euro) übernommen hat. Die Exponate kommen großenteils aus vollgestopften Schränken in der Moskauer »Memorial«-Zentrale: zerschlissene Kleidungsstücke, einfachstes Handwerkszeug, Dokumente, Fotos, Lagerzeitungen. Hier, im kleinen, abgelegenen Neuhardenberg, werden sie jetzt der Öffentlichkeit gezeigt. Warum nicht in Moskau, St. Petersburg oder einer sibirischen Großstadt? Weigert sich das heutige Rußland, diesen Teil der sowjetischen Geschichte aufzuarbeiten? Müssen Deutsche die Initiative ergreifen, ausgerechnet Deutsche, damit sichtbar wird, was endlich sichtbar werden muß? Deutet nicht schon der Umstand, daß im Namen jener Hauptverwaltung das deutsche Wort Lager steckt, auf eine deutsche Vorgeschichte und damit vielleicht auch auf eine deutsche Mitverantwortung hin? Bernd Kauffmann, Generalbevollmächtigter der Stiftung Neuhardenberg, äußert Skrupel. Er findet es nicht selbstverständlich, daß wir mit einem dicken Balken im Auge auf den Splitter im Auge des anderen zeigen, beruft sich aber auf Jorge Semprún, den spanischen früheren Kommunisten, der Häftling in Buchenwald war: Semprún, inzwischen verstorben, habe zu dem Ausstellungsvorhaben ermutigt und sei als Schirmherr vorgesehen gewesen.
Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, betont, daß keinerlei Aufrechnung beabsichtigt sei. Aber wie schon das von ihm gemeinsam mit Kauffmann und der »Memorial«-Vertreterin Irina Scherbakowa verfaßte Vorwort zum Katalog zeigt, ist es nicht leicht, bei dieser Absicht zu bleiben. Da schreiben die drei Initiatoren, der Nachholbedarf bei der Erforschung der Geschichte des Gulag werde »um so deutlicher, wenn man die Situation zu dem inzwischen erreichten Stand der musealen Aufarbeitung der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager in Beziehung setzt«. Was wird da wozu in Beziehung gesetzt? Und was wird damit bezweckt?
Knigge selber erwähnt, daß die Totenzahlen in den sowjetischen Arbeitslagern nach dem deutschen Einmarsch 1941 »sprunghaft gestiegen« sind. Auch er zitiert warnend das Balken-Splitter-Gleichnis. Aber die Ausstellung folgt doch in manchen Details der Tendenz deutschnationaler Selbstgerechtigkeit, den Kommunismus als Vater allen Terrors hinzustellen. So prangert sie den »roten Terror« in der jungen Sowjetunion an, ohne zu erwähnen, daß dieser ausdrücklich auf den konterrevolutionären »weißen Terror« antwortete. Mit keinem Wort spricht die Ausstellung von den Interventionskriegen, in denen die Truppen aus Großbritannien, USA, Japan, Frankreich, Italien, Deutschland gemeinsam mit Weißgardisten zeitweilig den größten Teil Rußlands, die Ukraine und Teile des Kaukasus okkupiert hatten. So bleibt die »Bedrohung der UdSSR durch äußere Feinde«, einst Hauptbegründung für die Internierung innerer Feinde, für die Ausstellungsbesucher eine bloße, abwegig wirkende Behauptung. Immerzu machen Besucher einander auf vermeintliche Ähnlichkeiten zwischen sowjetischen Arbeitslagern und deutschen Konzentrationslagern aufmerksam. Im Gulag gab es Musikgruppen – »wie in Auschwitz das Mädchenorchester«. Na bitte. Der Wunsch nach Entlastung durch Gleichsetzung ist noch längst nicht bezwungen.
Anzuerkennen ist, daß sich die Ausstellung im großen und ganzen auf Fakten beschränkt, die keiner Dramatisierung bedürfen, um die Betrachter zu erschrecken. Er habe aufgesetztes Pathos befürchtet, sagt der derzeitige »Memorial«-Vorsitzende Arseni Roginski am Eröffnungstag, aber das Befürchtete sei nicht eingetreten. Überhaupt habe er in der Ausstellung nichts Falsches gefunden. Er selber, 1946 geboren, war in seiner Jugend noch zu Arbeitslager verurteilt – wie 30 Jahre zuvor sein Vater. Eindrücklich zeigt die Ausstellung die Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit der Häftlingsbiographien bis hin zu den aus Nazi-Deutschland emigrierten Kommunisten, die, als Verräter beschuldigt, trotz harter, bitterer Gulag-Erfahrungen Kommunisten blieben.
Viele Millionen Menschen leisteten zwischen 1929 und 1956 Schwerstarbeit. Der französische Zeithistoriker Nicolas Werth, vor allem durch das von ihm mitherausgegebene »Schwarzbuch des Kommunismus« bekannt, gibt als Hauptredner der Eröffnungsveranstaltung die Zahl der Gulag-Häftlinge in jedem dieser Jahre mit zwei bis zweieinhalb Millionen an. Alljährlich seien 20 bis 40 Prozent der Insassen entlassen, gegen neue ausgetauscht worden. In der großen Mehrheit, so Werth, waren sie keine politischen Gefangenen. Häufige Einweisungsgründe waren Diebstahl oder Verschwendung von Gemeineigentum. Die Zwangsarbeiter verlegten Zigtausende Kilometer Eisenbahnschienen, bauten Straßen, Kraftwerke, Fabriken, Krankenhäuser, ganze Städte, schufteten in Steinbrüchen und Kohlegruben, leisteten Entscheidendes zur Erschließung des sibirischen Nordostens. Viele litten schwer unter den klimatischen Bedingungen, den Entbehrungen, auch an Willkür der Lagerleitungen; einige Lagerleiter wurden später schwer bestraft.
1953 wurden gleich in den ersten Monaten nach Stalins Tod die meisten Lager geschlossen, 1954 alle Sonderlager für politische Gefangene aufgelöst. Der Katalog erläutert: »Die Ineffektivität der Zwangsarbeit und die den Ertrag immer mehr übersteigenden Kosten des Gulag-Systems bewogen die sowjetische Führung zu einschneidenden Veränderungen.«
Nachdem die schwersten Kriegsfolgen überwunden waren und die Industrialisierung der Wirtschaft große Fortschritte gemacht hatte, konnten viele ehemalige Zwangsarbeiter aus den primitiven Barackensiedlungen in die von ihnen selber erbauten Städte einziehen und auf modernere Arbeitsplätze wechseln. Nach Vereinbarungen der sowjetischen Staatsführung mit Bundeskanzler Konrad Adenauer kamen 1955 auch zahlreiche Nazi-Verbrecher frei. Die Ausstellung nennt exemplarisch den früheren SS-Obersturmführer Helmut Bischoff, 1908 geboren, Jurist, hauptamtlicher Mitarbeiter der Gestapo, Führer eines »Einsatzkommandos« im besetzten Polen, verantwortlich für viele Erschießungen polnischer Zivilisten, später auch für Folter und Exekutionen im KZ Mittelbau-Dora, 1946 in den sowjetischen Lagern Mühlberg und Buchenwald interniert, zu Zwangsarbeit in der Sowjetunion verurteilt. Nach seiner Entlassung fand er Arbeit beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Ein 1967 in Essen eingeleitetes Strafverfahren gegen ihn wurde nach drei Jahren eingestellt: Aus Gesundheitsgründen sei ihm eine Urteilsverkündigung nicht zuzumuten. Bischoff starb 1993.
Die Gulag-Geschichte regt zu vielen Vergleichen an: zum Beispiel mit den brutalen Arbeitsbedingungen in der Frühzeit der Industrialisierung in Westeuropa oder mit der Billigarbeit Millionen Strafgefangener in heutigen, kommerziell betriebenen Haftanstalten in den USA und auch mit Arbeitslagern in Nazi-Deutschland. Was sich aber strikt verbietet, ist eine die deutsche Geschichte verharmlosende Gleichsetzung sowjetischer Arbeitslager mit deutschen Vernichtungslagern, in denen Alte, Kranke, Schwache, Juden, Kommunisten vergast wurden wie Ungeziefer. Und wir sollten uns hüten, Rußland über seine geschichtspädagogischen Aufgaben belehren zu wollen. An einigen Orten der Zwangsarbeit gibt es inzwischen Gedenkstätten. Zugleich ist ein virtuelles Gulag-Museum entstanden, wo sich vielleicht sogar noch etwas für die deutsche Geschichtsvermittlung lernen ließe. Das seit langem geforderte deutsche Holocaust-Museum, das künftigen Generationen Antworten auf die Frage geben sollte, wie es in diesem hochentwickelten Lande zu den Nazi-Verbrechen hat kommen können, besteht bis heute nicht.