Unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit begann am 6. Mai vor dem Münchner Oberlandesgericht endlich der größte Terrorismusprozeß gegen Neofaschisten in der bundesdeutschen Geschichte. Nach sechseinhalb Stunden wurden die Verhandlungen bereits wegen Befangenheitsanträgen der Verteidiger gegen die Richter um eine Woche vertagt.
Auf der Anklagebank sitzen das einzige noch lebende Mitglied der »Zwickauer Zelle« des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), Beate Zschäpe, sowie vier mutmaßliche Terrorhelfer, darunter Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben. Nach bisherigen Erkenntnissen ist der NSU verantwortlich für eine Mordserie an neun türkisch-kurdischen und griechischen Kleinunternehmern und einer Polizistin, zwei Nagelbombenanschläge auf Migranten in Köln und mindestens 14 Banküberfälle.
Die Angehörigen der Ermordeten und die Opfer der Anschläge hoffen verständlicherweise auf Aufklärung dieser Verbrechen. Schon vor Prozeßbeginn stand das Verfahren durch Kleinlichkeit und Peinlichkeit des Gerichts in einem schlechten Licht. Obwohl neun der zehn auf das Konto des NSU gehenden Toten und die Mehrzahl der durch Bombenanschläge Verletzten türkischer Herkunft waren, hatte das Gericht sich geweigert, Presseplätze für die türkische Presse bereitzustellen. Selbst dem türkischen Botschafter konnte kein Besucherplatz garantiert werden. Begründet wurde dies mit dem zu kleinen Gerichtssaal, in den nur ein Bruchteil der interessierten Medienvertreter hineinpaßten. Die türkische Tageszeitung Sabah zog gegen diese Regelung vor das Bundesverfassungsgericht – und gewann. Anstatt jetzt einfach einige zusätzliche Stühle für ausländische Pressevertreter in den Saal zu stellen, beschloß das Gericht, das Presseakkreditierungsverfahren nun nach Los völlig neu zu beginnen und den eigentlich zum 17. April angesetzten Prozeßauftakt auf den 6.Mai zu vertagen. Für die teilweise traumatisierten Opfer des NSU-Terrors und ihre Angehörigen, die sich lange auf den Prozeß vorbereitet hatten, war diese plötzliche Prozeßverschiebung ein Schlag ins Gesicht. Erst wurden sie jahrelang durch die von den Ermittlungsbehörden vermutete Verwicklung der Opfer ins Rotlicht- oder Drogenmilieu stigmatisiert – bei völliger Ausblendung fremdenfeindlicher Tatmotive. Und jetzt wurden sie durch die mutwillige Unfähigkeit des Gerichts, rechtzeitig eine rechtsstaatlich vorgeschriebene Prozeßöffentlichkeit sicherzustellen, brüskiert. Mit Presseplatzlotterie machte sich das Gericht dann vollends lächerlich. Sämtliche großen überregionalen Tageszeitungen von taz bis FAZ zogen bei diesem Verfahren Nieten. Dagegen triumphierten Provinzblätter, die über gar keinen Korrespondenten vor Ort verfügen. Zyniker ulken bereits, daß die ebenfalls per Los akkreditierte Frauenzeitschrift Brigitte nun über Beate Zschäpes Frisur und den neuesten Nazi-Schick ihrer Mitangeklagten berichten kann.
Das Gericht scheint in seiner Sturheit das große mediale und öffentliche Interesse an diesem Fall gänzlich zu ignorieren. Wenn es in der Vergangenheit gegen Linke ging, hatte die bundesdeutsche Justiz keine solchen Platzprobleme. Zur Aburteilung der RAF wurde in den 1970er Jahren in Stuttgart-Stammheim eigens ein neuer Gerichtskomplex errichtet. Und zu einem Massenprozeß gegen 20 Aktivisten der kurdischen PKK wurde in den 80er Jahren kurzerhand eine Polizeikaserne zu einer Außenstelle des Düsseldorfer Oberlandesgerichts umgewandelt. Doch wenn es gegen Nazis geht, dann wird es auf einmal eng. Fast hat man den Eindruck, das Gericht scheue die kritische Öffentlichkeit.
Dies wäre kein Wunder, denn an der Wahrheitsfindung jenseits der noch viel schwerer nachzuweisenden juristischen Schuld haben sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundestages und mehrerer Länder trotz parteiübergreifendem ehrlichem Aufklärungswillen der meisten darin Mitwirkenden bereits die Zähne ausgebissen. Die Untersuchungsausschüsse trafen auf Verfassungsschutzämter, die wichtige Akten geschreddert hatten, auf Zeugen aus dem Sicherheitsapparat mit Gedächtnislücken und auf unfähige Ermittler, denen selbst einschlägige Nazisymbole nichts sagten.
Vier der möglichen Terrorhelfer aus der Naziszene stehen mit Beate Zschäpe vor Gericht. Doch viele andere, die nicht nur Unterstützung leisteten, sondern immer wieder ihre schützende Hand über die abgetauchten Nazis hielten, fehlen. Mindestens 15 V-Leute von Verfassungsschutzämtern und dem Berliner Landeskriminalamt konnten schon identifiziert werden, Schätzungen gehen aber von rund 25 Geheimdienstspitzeln aus dem Umfeld des NSU aus. Bei einem Mord am Betreiber eines Internetcafés in Kassel war sogar ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der aufgrund seiner rechten Gesinnung in seinem Heimatort den Spitznamen Klein Adolf hatte, als Zeuge zugegen. Angeblich wollte der Agent nur erotische Kontakte übers Internet pflegen. Doch auch in direkter zeitlicher Nähe zu weiteren NSU-Morden hatte Klein Adolf telefonische Kontakte zu seinem V-Mann aus dem neonazistischen »Blood & Honour«-Netzwerk, das Untergrundzellen und Anschläge nach Art des NSU befürwortete. Viel spricht dafür, daß der Kontakt der Geheimdienste zum NSU niemals abgerissen ist. Noch am Tag, als das Haus der Nazis in Flammen aufging, wurde von einem Telefonanschluß im Innenministerium bei Beate Zschäpe angerufen.
»Es fehlen vollständig die Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden. Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit, sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müßten«, erklärte die Münchner Rechtsanwältin Angelika Lex, Nebenklagevertreterin im NSU-Prozeß und gewählte bayerische Verfassungsrichterin, auf einer Demonstration gegen die Kumpanei von Geheimdienst und Neonazis am 13. April in München. Lex’ Fazit lautete: »Auf diese Anklagebank gehören nicht fünf, sondern 50 oder noch besser 500 Personen.« Vielleicht gelingt es dem Gericht, einige Neonazis für die NSU-Morde zur Rechenschaft zu ziehen. Daß dabei wirklich Licht ins Dunkel des Sumpfes aus militanten Faschisten und ihren Helfern im Staatsapparat kommt, muß vorerst bezweifelt werden. Denn das Münchner Oberlandesgericht hat nicht nur zu wenige Presseplätze. Auch die Anklagebank ist zu klein für all diejenigen, die eigentlich dort sitzen müßten.