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Titel112013

Wiesbaden ostwärts  (Heinz Kersten)

Ex oriente lux – ein Sprichwort, dem, abgesehen von vielleicht mangelnden Lateinkenntnissen, die meisten deutschen Verleiher und Kinobetreiber kaum etwas abgewinnen können. Also kontert seit 13 Jahren Wiesbaden im vertrauteren Englisch mit goEast als Motto eines Festivals des mittel- und osteuropäischen Films. Aus über 350 Einreichungen hatte man dazu diesmal 132 Kurz- und Langfilme ausgewählt – schon allein zahlenmäßig ein Beweis der Lebendigkeit osteuropäischer Kinematografien, wovon zudem Vielfalt und Qualität ihrer Produktionen zeugten, dem Mainstream unseres Kinoangebots keineswegs unter-, ja oft auch überlegen. Hier können nur einige wenige Beispiele stehen.

In der neuen kapitalistischen Gesellschaft gleichen sich global die Probleme, nun von Deutschland bis Kasachstan. Erfahrungen des Wandels reflektieren immer noch Filme aus den davon betroffenen Ländern. Parallele Opel, 1992 in Rumänien: »Despre oameni si melci« (Von Schnecken und Menschen). In dem kleinen Ort soll die staatliche Autofabrik privatisiert werden. Ein französischer Unternehmer will sie in eine Schneckenkonservenfabrik umbauen. Viele Angestellte würden ihren Job verlieren. Dagegen hat der junge Gewerkschaftsvorsitzende eine zündende Idee. Alle Arbeiter sollen ihr Sperma einer neuen Klinik in Bukarest verkaufen, um mit dem so verdienten Geld die Fabrik in eigene Regie zu übernehmen. Die Umsetzung erweist sich allerdings als schwieriger denn geglaubt. Tudor Giurgiu hat aus angeblich wahren Begebenheiten eine perfekte Komödie gezaubert. Beweis für Rumäniens Abstand von der eigenen Vergangenheit oder Zynismus? Ich habe jedenfalls gelacht, sonst selten diesmal in Wiesbaden.

Vertreibung aus vertrauter wohnlicher Umgebung, bei uns Randthema in Lokalnachrichten, trifft nun auch die stets optimistische 82jährige Maria und ihren Mann Tadeusz, 80, einen stillen Wissenschaftler im polnischen Posen. Nach 66 Jahren in gemeinsamer Wohnung können sie sich die von einer neuen Hauseigentümerin verlangte Miete nicht mehr leisten. Sechs Monate bleiben ihnen für den Abschied, registriert mit allen zurückbleibenden schmerzvollen Erinnerungen von Marias Enkel, dem in Wien lebenden Filmemacher Filip Antoni Malinowski: »Eksmisja« (Maria muß packen). Ganz anders, mit manchmal fast surrealem lakonischen Humor beschreibt der kasachische Regisseur Adilkhan Yerzhanov die immer wieder von bürokratischer Willkür gehemmten Versuche zweier Brüder und ihrer kleinen Schwester, nach dem Hinauswurf aus der gemeinsamen Wohnung sich auf einem der Familie gehörenden unbebauten kleinen Grundstück auf dem Lande eine neue Bleibe zu schaffen: »Stroiteli« (Konstrukteure).

In der Sowjetunion erlebte der georgische Film eine Blüte, an die jetzt »Grzeli Nateli Dgeebi« (Die langen hellen Tage) anzuknüpfen versuchte und dafür den Skoda-Filmpreis erhielt. Zwei vierzehnjährige Freundinnen erleben Anfang der 1990er Jahre in einer Atmosphäre allgemeiner Verunsicherung nach dem Zusammenbruch bisheriger Gewißheiten das Ende der Kindheit, müssen sich männlicher Aggressionen erwehren – wiederum Bezüge zu unserer heimischen »Aufschrei«-Debatte. Regie führten Nana Ekvtimischwvili, die an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg studierte, und Simon Groß, Absolvent der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film. Nicht das einzige Beispiel für ein Engagement deutschen Filmnachwuchses im Osten.

Als Koproduktion mit der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) realisierte deren Studentin Ana-Felicia Scutelnicu mit »Panihida« eine Liebeserklärung an ihre Heimat in der Republik Moldau: poetische Bilder von den Ritualen beim Abschied einer Dorfgemeinschaft von einer gestorbenen alten Frau. Einen fast absurden Kontrast liefert der Dokumentarfilm »Pevnost« (Festung) über die Transnistrische Moldauische Republik, die sich 1991 von der Republik Moldau abspaltete und seitdem – trotz eigener Währung und Verfassung von der Weltgemeinschaft nicht als souveräner Staat anerkannt – von Moskaus Gnaden existiert. Nach Überwindung vieler bürokratischer Hürden gelang es Lukáš Kokeš und Klára Tasovská, zwei Kommilitonen der Prager Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste (FAMU), dort zu Zeiten der Präsidentenwahlen 2011, bei denen ein selbstherrlicher Alleinherrscher abgelöst wurde, zu drehen. Erstaunlich nur, daß das Ergebnis bei keiner Fernsehanstalt Abnehmer fand.

Zur Kontroverse des ZDF mit der polnischen Kritik an Unterstellung von polnischem Antisemitismus in dem Dreiteiler über den Zweiten Weltkrieg »Unsere Mütter, unsere Väter« paßte eine polnische Koproduktion mit den Niederlanden, Rußland und der Slowakei über das Verbrechen eines ganzen Dorfes an jüdischen Mitbewohnern: »Pokłosie« (Nachlese) von Władysław Pasikowski. Nach 20 Jahren in den USA besucht Franek seinen Bruder im gemeinsamen Heimatort und stößt dabei auf eine feindselige Stimmung diesem gegenüber, weil der entdeckt hat, daß im Zweiten Weltkrieg Grabsteine des jüdischen Friedhofs zum Straßenbau benutzt wurden. Die Spur führt zu einer in die eigene Familie reichenden weitaus größeren Schuld. Anknüpfend an die Aufdeckung des 1941 von polnischen Zivilisten an ihren jüdischen Mitbürgern verübten Massakers in Jedwabne löste der Film in Polen einen handfesten Skandal aus.

Inspiriert von authentischen Begebenheiten war auch der mit dem Preis für die beste Regie der Landeshauptstadt Wiesbaden ausgezeichnete serbische Film »Krugovi« (Kreise) von Srđan Golubović. Anfangs blendet er zurück auf eine Szene im Bosnienkrieg, in der der Soldat Marko einen von seinem vorgesetzten Offizier schikanierten muslimischen Kioskbesitzer verteidigt und dafür von seinen Kumpels zu Tode malträtiert wird. Dann zeigt er in der Gegenwart, wie die inzwischen verstreut lebenden Betroffenen mit jenem Vorfall umgehen. Ein Film über Schuld, die Schatten der Vergangenheit und das Problem, damit fertig zu werden.

Der großen Vergangenheit des jugoslawischen Films war das diesjährige Symposion des Festivals gewidmet: der als »schwarze Welle« bekanntgewordenen Dekade von Anfang der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre. Das Wiedersehen mit den Arbeiten von Aleksandar Petrović, Puriša Djordević, Jože Babič, Živojin Pavlović, Dušan Makavejev und Želimir Žilnik hatte schon allein die Reise nach Wiesbaden gelohnt.

Übrigens: Das Kino »Krokodil« in der Berliner Greifenhagener Straße 32 widmet stets sein gesamtes Repertoire Filmen aus Rußland und Osteuropa.